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Aufsässige Leben, schöne Experimente

Buchcover von aufsässige leben, schöne experimente von saidiya hartman

Aufsässige Leben, schöne Experimente

Saidiya Hartman ist Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie befasst sich mit der Geschichte der Sklaverei und deren Nachleben, hauptsächlich im Nordamerikanischen Kontext. Ausgangspunkt ihres Schreibens sind häufig unvollständige und problematische Archivgüter, welche die Geschichten Schwarzer Personen in den Hintergrund drängen oder aus einer einseitigen Perspektive darstellen. So auch der Fall in ihrem neuesten Buch Aufsässige Leben, schöne Experimente: Von rebellischen Schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers (ins Deutsche übersetzt von Anna Jäger), welches die Leser*innen in US-Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts wie New York und Philadelphia führt. Ihre Protagonist*innen—überwiegend junge Schwarze Frauen—findet Hartman in ganz unterschiedlichen Quellen: in Aufzeichnungen von Mieteintreiber*innen; soziologischen Studien, Gerichts- und Gefängnisakten; Slum-Fotografien sowie in Berichten von Sittenpolizist*innen, Sozialarbeiter*innen und Bewährungshelfer*innen. Fast alle diese Dokumente stellen die oftmals aus den Südstaaten stammenden Neuankömmlinge als vom rechten Weg abgekommen oder als problembehaftet dar. Doch Hartman findet in diesen Zeugnissen etwas ganz anderes: die Chronik sozialer Visionär*innen, die den schwierigen Verhältnissen in Philadelphias siebten Bezirk oder in New Yorks Tenderloin zum Trotz mit einem radikal anderen Leben experimentierten. Um diese alternative Erzählung zu entwicklen, greift Hartman auf eine Technik zurück, die sie als close narration, als Methode des verschränkten Erzählens, bezeichnet und wie folgt beschreibt: „die Stimme der Erzählerin und die der Figur [werden] untrennbar voneinander entwickelt […], sodass Sichtweise, Sprache und Rhythmus derjenigen, die als aufsässig beschrieben werden, den Text formen und aufbauen.“ (11)

Für mich erreicht Hartman mit dieser Art des Schreibens definitiv ihr selbstformuliertes Ziel, die Arbeit einer Wissenschaftlerin mit der Schönheit des Romans zu verknüpfen. Statt einer trockenen historischen Abhandlung über die Anfänge der Great Migration, ist Hartmans Buch daran interessiert, das Innenleben jener Schwarzer Frauen nachzuvollziehen, die sich nur wenige Jahrzehnte nach dem Ende der Sklaverei nach den Versprechungen der Freiheit im urbanen Norden sehnten. Auch im Angesicht harter Realitäten, die sie dort erwarteten und die jegliche Form von Potenzial oder Schönheit auszuschließen scheinen, halten die jungen Frauen an dieser Sehnsucht fest. Und tatsächlich finden Hartmans Protagonist*innen—meist namenlose sowie einige wenige bekanntere  Frauen (darunter Ida B. Wells und die Tochter von Madame C.J. Walker, A’lelia) zahlreiche Wege, um mit einem Leben in mehr Schönheit und Freiheit zu experimentieren. Sie forderten beispielsweise sexuelle Freiheiten und wechselnde Partnerschaften ebenso ein wie das Recht, alleinerziehend oder kinderlos zu sein. Sie verließen herabwürdigende Arbeitsverhältnisse und gingen stattdessen tanzen oder unternahmen Schaufensterbummel. Teils lebten sie in queeren Beziehungen.

In den Text eingestreut finden sich auch einige der zugrundeliegenden Archivgüter. Selbst einen Blick auf diese oftmals objektifizierenden und pathologisierenden Quellen werfen zu können, hat für mich die fast unmögliche Aufgabe verdeutlicht, darin selbstermächtigende Narrative und Spuren “einer Revolution vor dem Großen Gatsby”  zu finden, der sich Hartman stellt. Ein Vorhaben, das Hartman in der vorliegenden sowie in früheren Arbeiten immer wieder auch selbstkritisch hinterfragt: Wie beschreibt man das Leben, das zwischen den Kategorien von Dienstmagd, Hure, Sklavin und Leiche oszilliert? Wie macht man diese Gewalt sichtbar, ohne zugleich darin eingeschriebene Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren, lautet eine weitere Fragestellung.

Für mich liegt die Stärke dieses Textes und von Hartmans Arbeit im Allgemeinen in ebendieser Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten, vor die uns von Gewalt geprägte Archive stellen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung in Aufsässige Leben ist ein verändertes Vokabular sowie ein neuer Imaginationsraum, in dem Aufsässigkeit nicht länger kriminalisiert wird, sondern als schönes Experiment und als eine widerständige Praxis des (Über-)lebens betrachtet wird.

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