Antichristie
Mithu Sanyals zweiter Roman Antichristie gleicht seinem Vorgänger Identitti nur insofern, dass es sich bei der Geschichte und ihrer Erzählweise wieder um einen wilden Ritt handelt. Die Mutter der 50-jährigen Kölnerin Durga ist vor kurzem gestorben, aber sie reist trotz ihrer Trauer nach London für einen Job. Durga ist Teil eines Writers‘ Room, dessen Aufgabe es ist, eine Agatha Christie Verfilmung neu aufzulegen – die beteiligten Personen halten das für zeitgemäß, aber zahlreiche Protestierende schimpfen über die geleakten Pläne als „woke“. Als würde das noch nicht reichen, fällt Durga plötzlich durch die Zeit. Zu ihrer eigenen Überraschung landet sie im Jahr 1906, heißt Sanjeev und hat einen Penis, der sie – und das würde ich als typisch für Sanyals Humor bezeichnen – erst einmal völlig fasziniert.
Ich entscheide mich selten freiwillig dazu, Geschichten über Zeitreisen zu lesen, obwohl sie, wenn sie gut gemacht sind, sowohl erzählerisch einiges ermöglichen als auch Verbindungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart effektiv inszenieren und hinterfragen können. Und genau das gelingt Sanyal mit Antichristie. Mitten in London, im Herzen des Empires, wohnten Anfang des 20. Jahrhunderts erinnerungswürdige indische Studenten in Shyamji Krishna Varmas India House, darunter der Revolutionär und Antikolonialist Madan Lal Dhingra oder der gelinde gesagt umstrittene Vinayak Savarkar, der später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wurde. Durga lebt als Sanjeev mehrere Jahre mit diesen Männern – allesamt historische Figuren – zusammen, führt ausgiebige politische Diskussionen, die für den indischen Kampf gegen den Kolonialismus extrem wichtig waren, aber aus heutiger (Durgas) Sicht oft auch problematisch erscheinen – Nationalismus war ein wichtiges Stichwort (wie in vielen antikolonialen Bewegungen) und Feminismus eher unbekannt. Mohandas Ghandi kommt mehrfach zu Besuch und obwohl Durga ihn immer bewundert hat, erfährt sie als Sanjeev, dass auch Ghandi nicht fehlerfrei war. Insgesamt ahmt dieser Teil der Erzählung in einigen Aspekten die Form eines Krimis nach: Im India House passiert (angeblich) ein locked-room Mord, der aufgeklärt werden muss und wer wäre besser geeignet, diese Aufgabe zu übernehmen, als Sherlock Holmes? Er äußert sich häufiger mal herablassend bis rassistisch gegenüber Indern, hilft Sanjeev aber trotzdem.
Die Arbeit im Writers‘ Room schreitet auch weiter voran und Sanjeevs Erfahrungen lenken einige von Durgas Google-Suchanfragen in nützliche Richtungen. Die Gruppe diskutiert scheinbar endlos über die Beziehung zwischen Hindus und Muslimen in Indien, führt Gespräche mit denjenigen, die gegen ihre Arbeit protestieren und zieht Durga auf, dass ihre Doppelfolge für die britische Kultserie Dr. Who nur als eine zählt. Manchmal hatte ich etwas Schwierigkeiten den langen Dialogen im Detail zu folgen. Während der Arbeit im Writers‘ Room wird Durga immer wieder von der Trauer um ihre schrullige Mutter heimgesucht. Nicht ihr bengalischer Vater Dinesh, sondern ihre weiße deutsche Mutter Lila war es, die Durga in ihrer Kindheit in einer Tour vom indischen Widerstand gegen den Kolonialismus erzählte. Und damit komme ich zu einer weiteren amüsanten Ebene in Sanyals Roman: Durgas Familie und Freund*innen. Alle Figuren sind liebenswert gestaltet und ihre Beziehungen untereinander sind so kompliziert wie menschlich. Der Roman hat also einiges zu bieten und ich bin dankbar für Sanyals bereichernde Stimme in der deutschen Literatur.
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