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Buchcover von Keri Hulmes Roman Unter dem Tagmond. Hellblauer Himmel, Strand und Felsen

Unter dem Tagmond

Keri Hulme hat Kai Tahu Vorfahren sowie schottische und englische. Unter dem Tagmond (übersetzt von Joachim A. Frank) ist ihr erster Roman, für den sie nur mit Mühe einen Verlag fand. Schließlich wurde er von dem kleinen Spiral Verlag aufgegriffen, der von einem Frauenkollektiv geleitet wird – 1985 gewann das Buch den Booker Prize. Das Roman spielt auf der Südinsel Neuseelands und handelt von drei Figuren, die alle auf ihre ganz eigene Art und Weise Probleme und Sorgen haben. Da ist Kerewin Holmes, eine wohlhabende, einzelgängerische Künstlerin, die sich mit ihrer Familie zerstritten hat. Sie lebt in einem bizarren Turm, den sie am Meer gebaut hat. Eines Tages bricht der Junge Simon – sein genaues Alter ist unbekannt – in ihren Turm ein und zwischen ihnen entwickelt sich eine zarte und komplexe Freundschaft. Er bringt seinen Vater Joe mit ins Spiel, einen Mann, der eigentlich Prediger sein sollte, aber in einer Fabrik arbeitet. Kerewin ist absichtlich allein, wortkarg und bissig. Simon spricht nicht und ist nicht Joes leiblicher Sohn. Er wurde vor einigen Jahren als einziger Überlebender eines Schiffbruchs an Land gespült. Und Joe, der seine Frau und den gemeinsamen kleinen Sohn durch eine Krankheit verloren hat, zieht Simon allein auf. Mit dem Zusammentreffen dieser drei Charaktere beginnt die seltsame Verflechtung ihrer Leben, die den Stoff der Geschichte des Romans bilden.

Māori-Wissensproduktion und -Geschichten sind das Rückgrat dieses tollen Buches. Joe ist Māori und Kerewin hat teilweise ebenfalls Māori Vorfahren; Simons Herkunft ist lange unbekannt. Auch wenn die wohlhabende, gebildete und weitgereiste Kerewin sich an anderen Kulturen erfreut, an Musik und Poesie aus anderen Ländern, an verschiedenen Formen von Spiritualität, sind indigene Erkenntnistheorien der Schwerpunkt des Romans. Das Buch ist durchzogen von Māori-Begriffen und -Sätzen, die in einem Glossar erklärt werden. Kerewins Freude an der englischen Sprache scheint die von Hulme zu sein (die Ähnlichkeit ihrer Vornamen ist sicher kein Zufall). Die Autorin ist mal schlagfertig und mal ernsthaft in ihren Anspielungen, ihren geschickten Wortspielen und rhythmischen Alliterationen. Für mich waren die stärksten Stellen des Buches die, in denen es nahe bei den einzelnen Menschen blieb und bei den Lasten, die sie mit sich tragen. Die Charaktere entpuppen sich langsam, aber sicher, in aufrichtiger Klarheit als Menschen mit echten Gefühlen – darin zeigt sich Hulmes Talent für die Entwicklung von Charakteren auf dem dafür zur Verfügung stehenden Raum. Das Buch umfasst über 500 Seiten. Die Dreidimensionalität von Kerewin, Simon und Joe half mir allmählich zu erkennen, dass ich sie nicht mögen oder ihre Handlungen gutheißen musste, um die Geschichte zu schätzen. Dieses Buch war für mich wie eine Reise, und zwar nicht in dem Sinne, dass es mich auf eine Reise mitnahm (obwohl in der Geschichte einige davon vorkommen), sondern in Bezug auf meine Beziehung zu dem, was es erzählt und was sich im Laufe der Lektüre immer wieder änderte: Mal mochte ich es, mal hasste ich es, mal liebte ich es, mal wollte ich die Figuren erlösen, mal verabscheute ich sie, mal nahm ich sie so, wie sie waren. Unter dem Tagmond erinnerte mich an die Geduld, die Literatur einen lehren kann, und daran, dass dicke Bücher ganz unterschiedlich auf Leser*innen wirken können.

Der Roman – ich muss an dieser Stelle warnen – enthält einige schwer ertragbare Szenen, generell gibt es viel Gewalt und Gewalt gegen Kinder. Heutige Leser*innen werden sich sicher an einigen Stellen unwohl fühlen. Andere Aspekte des Romans sind seltsam zeitgemäß, zum Beispiel die dargestellte Ablehnung verschiedener Formen von Heteronormativität. Einige Passagen werden mir noch lange in Erinnerung bleiben, Beschreibungen von Meer, Strand und Land, merkwürdige Besonderheiten und liebevolle Details in Beschreibungen von Fischfang, Essenszubereitung und Malerei. Unter dem Tagmond ist eine Herausforderung, aber das Buch ist die Mühe absolut wert.

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