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Buchcover Ferne Gestade von Abdulrazak Gurnah

Ferne Gestade

Seit Abdulrazak Gurnah 2021 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ist der in Sansibar geborene Autor, der in Großbritannien lebt, plötzlich auch im Mainstream bekannt. Sein Werk wurde für seine kompromisslose und mitfühlende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kolonialismus und dem Schicksal von Geflüchteten geehrt. Die unaufgeregte und bedachte Art, die Gurnah bei seiner Nobel Prize Lecture an den Tag legte, als er erzählte, wie wichtig das Schreiben für seine Reflexion politischer Zusammenhänge wurde, erinnert mich an die Erzählstimmen seines Romans Ferne Gestade (ins Deutsche übersetzt von Thomas Brückner). Dieser Roman, den er 2001 veröffentlichte und der erst dieses Jahr – 2022 – auf Deutsch erscheint, handelt von einem Zwist zwischen zwei Familien, der sich vor dem Hintergrund politischen Wandels abspielt. Ein älterer Herr, Saleh Omar, erzählt in überaus reflektierten und oft auch selbstkritischen Rückblicken, wieso er so spät in seinem Leben mit nicht viel mehr als einer Mahagoni Box für Räucherstäbchen nach England fliehen musste, wo er sich als Rajab Shaaban Mahmud ausgibt. Im Verlauf des Buches werden weitere Bruchstücke aus Latif Mahmuds Perspektive ergänzt, um den Kontext des Geschehens zu vervollständigen, zu verkomplizieren und anzufechten. Latif ist Rajabs Sohn, der wiederum ausschlaggebend für Salehs steinigen Lebensweg war. Obwohl Latif um einiges jünger ist und manchmal vorwurfsvoll, ähneln sich die Erzählstimmen der beiden sehr.

In England lebt Saleh in einer kleinen Küstenstadt, was so ungefähr das einzige ist, was an sein Leben in Ostafrika erinnert. Er wird mithilfe der Sozialarbeiterin Rachel zunächst von einer provisorischen Unterkunft für Geflüchtete in ein Bed and Breakfast verfrachtet, in dem skurrile Figuren auftauchen. Es ist ein Setting, dass das Abstoßende, was Geflüchtete in zahlreichen europäischen Ländern durchmachen müssen, verdeutlicht; wie sie nicht mehr als Individuum wahrgenommen werden, sondern nur noch als Teil von Geschichten, die andere erzählen. Saleh schweigt, beobachtet, ordnet ein und verbringt seine Tage zurückgezogen, auch dann noch, als er in eine eigene, schlichte Wohnung ziehen kann. Dort besucht Latif ihn später und sie rollen gemeinsam die konfliktträchtige Geschichte, die sie verbindet, auf.

Ferne Gestade spielt zu einer Zeit, in der es einen Regimewechsel in ihrem ostafrikanischen Herkunftsland gab – es klingt wie die Situation in Sansibar, die Gurnah in den 1960ern selbst veranlasste, nach Großbritannien zu gehen. Die arabischstämmige Oberschicht, zu der Saleh gehört, wird entmachtet und von der neuen Regierung aus nicht immer erklärbaren Gründen verfolgt. Dieser Kontext wird nicht erklärt, sondern geschickt durch die Rollen von Saleh und der Familie Mahmud erlebbar gemacht.  

Wie schon in Gurnahs Roman Afterlives, der zwar später veröffentlicht wurde, den ich aber zuerst gelesen habe, fand ich besonders spannend, dass Deutschland in die Geschichte von Ferne Gestade verwickelt ist. Aber anders als in Afterlives geht es in Ferne Gestade nicht um den deutschen Kolonialismus, sondern um afrikanische Studenten in der DDR. Bevor Latif nach England gelangt, landet er als junger Erwachsener in die Nähe von Dresden. Dank eines Stipendiums beginnt er, Zahnmedizin zu studieren. Tatsächlich herrschte historisch gesehen ein reger Austausch zwischen der DDR und Sansibar, weit über Stipendien hinaus. Doch trotz ständig beteuerter sozialistischer Solidarität erlebt Latif Rassismus. Spannend an den Szenen, die in Deutschland spielen, ist aber auch, dass Gurnah mit den Begegnungen, die Latif macht, versucht, unterschiedliche Perspektiven auf Flucht und das Gefühl von Heimat aufzuzeigen.

Ferne Gestade ist ein komplexer und lesenswerter Roman. Um die Nuancen zu verstehen, müsste ich ihn sicherlich noch mehrmals lesen und mein Wissen über Sansibar und die Beziehungen zur DDR vertiefen. Dennoch muss ich gestehen, dass mir Afterlives etwas besser gefallen hat – vermutlich, weil nicht nur männliche Charaktere zentral sind und Handlungsmacht demonstrieren dürfen und weil die Erzählstimmen mehr Energie verströmen. Aber letztendlich sind die Bücher so verschieden, dass ich guten Gewissens empfehlen kann, beide zu lesen und selbst ein Urteil zu fällen.

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