Jahr der Wunder
Der aktuelle Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Louise Erdrich erzählt zwischen Pandemie, Protest und Umbrüchen in Minneapolis von der Auseinandersetzung der Ojibwe Tookie mit ihrer Vergangenheit. Er beginnt mit der Beschreibung einer Straftat, aufgrund derer Tookie, die Ich-Erzählerin, in ihren Dreißigern zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wird. In ebendieser Zeit lernt sie „mit einer Intensität zu lesen […], die an Wahnsinn grenzte“. Wieder auf freiem Fuß, führt sie ein „normales“ Leben als glücklich verheiratete Buchhändlerin, welches ihr angesichts ihrer Vorgeschichte „himmlisch“, fast unwirklich erscheint. Dieses gerät im November 2019 schließlich ins Wanken, als ihre „nervigste, treueste“ Kundin Flora unerwartet stirbt und auch nach ihrem Tod noch buchstäblich im Buchladen herumgeistert. Flora hinterlässt ein geheimnisvolles Buch, – das letzte, das sie vor ihrem Tod gelesen hat – welches im 19. Jahrhundert von einer Indigenen Gefangenen verfasst wurde und Tookie Antworten bietet.
Die leichte, humorvolle Erzählweise ist begleitet von einem hingebungsvollen und nachdenklichen Umgang mit Wörtern, der bereits in Tookies erster Gefängnislektüre, dem American Heritage Dictionary of the English Language, angelegt ist. Bücher helfen der taffen, aber sensiblen und zweifelnden Frau, bisweilen in Worte zu fassen und zu verarbeiten, was sie häufig nur diffus spürt. Diese stets über allem liegende Spannung, die hier und da durch Wörterbucheinträge, ein zufällig entdecktes Gedicht oder Floras Hinterlassenschaft erzeugt oder aufgelöst wird, ist neben den komplexen Figuren eine der Stärken des Romans.
Tookies Fragen um ihre Vergangenheit, die zunächst nur sporadisch an die Oberfläche treten und schnell beiseitegeschoben werden, und ihre biographischen Verwicklungen als verurteilte Ojibwe werden schließlich geschickt in die Protestbewegung gegen Polizeigewalt und Rassismus infolge der Ermordung George Floyds im Mai 2020 eingebettet. Neben der Heimsuchung durch Floras Geist sind es diese Ereignisse, die Schmerz und Schuldgefühle freilegen und zur Konfrontation mit dem Gemiedenen drängen. Dies geht einher mit einer Ambivalenz gegenüber den Menschen, die Tookie am nächsten stehen, und droht Beziehungen zu gefährden.
Der Roman schöpft gekonnt aus jüngsten Ereignissen und ordnet diese, ebenso geschmeidig wie Tookies persönliche Geschichte, immer wieder historisch ein. Er bietet Einblicke in Traditionen, Lebensbedingungen und Protestbewegungen der Indigenen Bevölkerung und ihr Verhältnis zu anderen marginalisierten Gruppen wie Schwarzen ebenso wie zu Weißen – besonders ausformuliert in der perfiden Fetischisierung der Indigenen seitens Flora, die einen Knackpunkt ihrer Beziehung zu Tookie darstellt. Die Aktualität des Buches zeigt sich auch am zunehmenden Interesse an Schwarzen und Indigenen rassismuskritischen und intersektionalen Perspektiven, denen Tookie und ihre Kolleginnen in ihrer Buchhandlung als Anlaufstelle zum Thema begegnen. Ein wertvoller Schatz ist dabei „Tookies komplett subjektive Lieblingsbücherliste“, die neben „Heimsuchungsbewältigungsbüchern“ auch Kategorien wie „Indigenes Leben“ oder „Indigene Lyrik“ enthält – wobei übrigens auffällt, dass nur ein Bruchteil der letzteren ins Deutsche übersetzt wurde.
Jahr der Wunder (Übersetzung von Gesine Schröder), Originaltitel The Sentence, ist geprägt von Vermeidung, Wut und Trauer auf der Suche nach Wurzeln, trotz allem aber auch von ergreifender Wärme und Gemeinschafsgefühl. Leser:innen spüren der Geschichte des gespaltenen Landes nicht nur durch Tookies Biographie nach, sondern auch ihre liebevoll ausgewählten, „therapeutischen“ Buchempfehlungen. Die im Originaltitel angelegte Offenheit für Mehrdeutigkeit begleitet die vielschichtige, komplexe, intertextuelle Auseinandersetzung mit Geschichte(n), Büchern und Sprache, die bestrafen, aber auch besänftigen und teilweise versöhnen können.