Tomb of Sand
Tomb of Sand von Geetanjali Shree war unerwartet. Es ist eine Geschichte wie ein verlorener, langsam fahrender Güterzug. Ein ausschweifendes, tuckerndes Abenteuer in Prosa, das immer wieder abschweift, bevor es zum Kern zurückkehrt. Es ist eine Geschichte über die Teilung von Indien und Pakistan, durchzogen von magischem Realismus. Aber ich finde nicht, dass Shree mit Salman Rushdie oder Arundhati Roy verglichen werden kann. Sie erzählt vom Schönen und von den blutigen Aspekten einer weitläufigen Geografie.
Die achtzigjährige Ma fällt nach dem Tod ihres Mannes in eine tiefe Depression. Zunächst „sehen“ wir Mas Rücken, sie hat ihren Blick auf eine Wand gerichtet und ruft „no, no nyoo!“ Doch mit Hilfe eines magischen Spazierstocks findet Ma die Kraft, sich zu erheben und die Schichten ihrer früheren Identität abzustreifen. Sie ist nicht länger das unerschütterliche Bild einer sich selbst aufopfernden Bharat Mata – sehr zur Verwirrung ihrer Familie. Stattdessen verzichtet sie auf exquisite Saris, die ihrem sozialen Status entsprechen würden, und trägt stattdessen Abaya-Kleider, die vor Freiheit nur so sprühen. Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrer Freundin Rosie, einer Hijra.
Körper und Grenzen sind die Themen dieser Geschichte. Sie verschieben sich ständig und werden neu geschaffen. Als Ma und ihre Tochter bei Wagah die Grenze nach Pakistan überqueren, erfahren wir, dass Ma in ihre Heimat zurückkehren will. Doch in Khyber werden die beiden verhaftet, weil sie ohne Visum eingereist sind. Durch Mas Blick wird eine Grenze als das entlarvt, was sie eigentlich sein sollte: ein Raum für Begegnung, Freundschaft und Liebe. Wütende, blutige Linien, die das Land teilen, können nicht existieren, denn eine Grenze hat keine Religion. Die Grenze soll beide Seiten erhellen.
Eine ältere Protagonistin, die so eine komplexe Metamorphose durchmacht, ist erfrischend. Ma ist keine unkomplizierte Figur. Sie hat mit dem Trauma der Teilung gelebt und musste ihr wahres Ich die meiste Zeit ihres Lebens verstecken. Aber ihre Reaktion auf das Trauma ist wunderschön, obwohl ich mir instinktiv Sorgen um diese Frau mache, die sich über Bürokratie und Regeln hinwegsetzt, die bestimmen, wo unsere Körper existieren dürfen.
Leser*innen, die mit indischen Formen des Geschichtenerzählens nicht vertraut sind – z.B. mit Aufführungen der Ramayana, bei der gesprochen, gesungen und geklatscht wird –, haben anfangs vielleicht Schwierigkeiten in das Buch hineinzukommen. Tomb of Sand wurde in Hindi geschrieben, um dieses einzigartige Element zu erhalten. Daisy Rockwells englische Übersetzung ist dem Original manchmal zu treu geblieben, nämlich wenn die Poesie durch Klischees überdeckt wurde und die schiere Zahl der rhetorischen Fragen ermüdend wirkt.
Geetanjali Shree war bereits eine preisgekrönte Autorin, als sie und Daisy Rockwell im vergangenen Jahr den International Booker Prize gewannen. Ihr Werk hat nie versucht, sich dem anzupassen, was sich eine westliche Leser*innenschaft als „indisch“ oder „pakistanisch“ vorstellt. Ich ende mit meinem Lieblingszitat, um auch noch die letzten zu überzeugen, Tomb of Sand zu lesen: „The blood will burst their borders and seep away, and all the limbs will dry up and stiffen, but everyone will keep chanting Allahu Akbar and Hare Rama Hare Krishna.“
(Tomb of Sand ist noch nicht in deutscher Übersetzung erhältlich.)
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