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Archiv der verlorenen Kinder

Valeria Luiselli lehrt an der Columbia Universität in New York, arbeitet als Journalistin in Mexiko und den USA. 2019 veröffentlichte sie ihren exzellenten Roman Archiv der verlorenen Kinder. Schon auf den ersten Seiten war ich verliebt in das Buch, in Luisellis sanfte Erzählstimme, in die Klangwelt der Familie, die ich beim Lesen auf ihrer Reise von New York in die Apachería (Arizona) begleiten durfte.  

Vor der Reise fand die Familie zusammen durch die Arbeit der Eltern. Beide waren Teil eines großen Projektes, für das sie Beispieltonaufnahmen aller Sprachen, die in New York gesprochen werden, zusammentragen sollten. Sie sammelten den Klang der Stimmen von New York. Mit dem Ende des Projektes suchen sich beide Elternteile neue Aufgaben. Die Mutter, aus deren Perspektive der Roman größtenteils erzählt wird, plant die Geschichten der Kinder zu dokumentieren, die unbegleitet von Mexiko in die USA flüchten. Das Thema beschäftigt sie, seit sie ihrer Bekannten Manuela hilft, ihre Kinder zu suchen. Manuela lebt in New York, ihre Kinder sollten sich von Mexiko auf den Weg zu ihr machen, doch sie scheinen unterwegs verschwunden zu sein. Der Vater sucht die Geister der letzten Chiricahua Apachen. Ihn interessieren besonders Cochise, Geronimo und Chircahua. Diese drei stellen die letzten moralischen und politischen Führungspersonen der letzten freien Völker auf dem amerikanischen Kontinent dar, bevor die kolonialen Siedler alles vereinnahmten.  

Schon zu Anfang des Buches ist klar, dass der gemeinsame Road Trip quer durch die USA Mutter und Vater ihren jeweiligen Projekten näherbringen wird, aber ihre Beziehung auf der Kippe steht. Doch zunächst verbringen sie Tage, Wochen mit ihren beiden Kindern – einem Jungen, 10, und einem Mädchen, 5 – im Auto und reflektieren ihre Beziehungen zueinander, zu den Kindern, wie sie leben wollen, ihre Werte und ihre politische Haltung gegenüber ihren Projekten. Neben Elternschaft und Familie steht der ethisch-politische Umgang mit sensiblem Material im Zentrum des Romans. Die Notwendigkeit von Archivierung wird ebenso deutlich vermittelt wie vorsichtige Reflektion über die Art und Weise.

Während der vielen Stunden im Auto lernen die Kinder von ihren Eltern über deren Projekte. Sie liefern der Mutter letztendlich den Begriff „verlorene Kinder“ für ihr Projekt – vielleicht weil sie sich „geflüchtetes Kind“ („child refugee“) nicht so gut merken können? Die Kinder sind fasziniert von den Archiven, an denen ihre Eltern arbeiten, und schaffen nicht nur neues Vokabular, sondern auch Spiele zu den Themen. Ihre Spiele hören jedoch irgendwann auf Spiel zu sein und verursachen eine dramatische Wendung in der Geschichte. Ich wollte dieses Buch gar nicht mehr aus der Hand legen – die Sätze klingen noch nach.

Schade ist nur, dass in der deutschen Übersetzung die indigene Bevölkerung der USA wiederholt mit diskriminierenden Begriffen bezeichnet wird. So geht einiges des politischen Feingefühls, das die Arbeit der Protagonist*innen und somit den Roman ausmacht, verloren. Ich empfehle daher das englischsprachige Original mit sehr viel mehr Nachdruck als die deutsche Übersetzung.

Lost Children Archive erschien zunächst auf Englisch bei Fourth Estate (2019) und wurde für den Kunstmann Verlag ins Deutsche übersetzt von Brigitte Jakobeit.

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