Woman, Eating
Ein Vampir wird von der menschlichen Welt gefressen: Woman, Eating von Claire Kohda
Bram Stoker und Ann Rice waren mein literarisches Sprungbrett in die Vampirliteratur. Film-Vampire folgten einem ähnlichen Weg, beginnend mit schwarz-weiß Kreaturen – Nosferatu und Bela Lugosis Graf Dracula – und in den frühen neunziger Jahren: Brad Pitt, Tom Cruise und Antonio Banderas mit beeindruckend seidigem, langem Haar. (Ich empfehle allen, die Interview mit einem Vampir noch nicht gesehen haben, es nachzuholen. Tom Cruise als Vampir mit Pferdeschwanz ist Grund genug.)
Obwohl es unfassbar viele hervorragende Vampire auf Papier oder großen Leinwänden gibt, war diese kleine Sammlung mein Ausgangspunkt. Die Darstellungen haben gemeinsam, dass sie alle die Anpassungsfähigkeit von europäischen Vampiren hervorheben. Im Gegensatz zu ihren nicht-westlichen Gegenstücken finden sich in ihrer Versuchung, ihrem Blutrausch und ihrem Begehren menschliche Nuancen. Monströs und schön scheinen doch irgendwie Hand in Hand zu gehen.
Die historische und zeitliche Verortung der Vampire ist letztlich zweitrangig. Der Roman Woman, Eating von Claire Kohda zeigt, wie ungeheuerlich die menschliche Welt für Vampire sein kann. Woman, Eating ist außerdem ein wahres Vergnügen für Foodies und gibt uns einen Einblick in die komplizierten Identitäten einzelner Körper zu bestimmten Zeiten – ohne furchterregend zu sein. Dieser kompakte Roman ist wunderbar makaber und – ich wage es zu sagen – ekelig.
Lydia ist ein mixed-race Vampir und hat gerade ihr Kunststudium abgeschlossen. Kurz nachdem bei ihrer Mutter Julie Demenz diagnostiziert wird, lässt Lydia sie in einem Pflegeheim zurück und macht sich auf den Weg nach London, um in der Kulturbranche ihren Platz zu finden. Bewaffnet mit einem Rucksack, einem Koffer und den Resten einer Blutwurst mietet Lydia ein Atelier in einer umgebauten Keksfabrik. Dort lernt sie Ben kennen, einen Künstlerkollegen, den sie immer wieder als rosa, warm und voller Leben beschreibt. Eine Reihe unglücklicher Begebenheiten sorgt dafür, dass sie ihre Pläne schnell über den Haufen werfen muss. Aber sie ist trotzdem nicht darauf vorbereitet, dass ihre To-Do Liste, die eigentlich zum Erfolg führen sollte, zerknittert und ihr Leben zunehmend trostlosen und chaotischen wird.
Im Atelier, umgeben von anderen Künstler*innen, fühlt sie sich wie eine Hochstaplerin. Die anderen mögen ein zerbrechliches, menschliches Leben führen, das unweigerlich enden wird, aber die Kunst, der sie sich verschrieben haben, berührt die Unsterblichkeit auf eine Weise, die Lydias endlose Existenz noch flacher und leerer erscheinen lässt. Außerdem ist es in London unmöglich, frisches Schweineblut zu bekommen – ihr einziges Nahrungsmittel. Mit jedem Tag, der vergeht, wird Lydia hungriger.
Woman, Eating ist kein Millenial-Roman à la Sally Rooney mit ein bisschen Blutsaugen als kleines Extra. Es ist eine erfrischende Interpretation des Vampirthemas, aber Lydia ist bewusst ein europäischer Vampir. Ihre Mutter Julie wurde vor Jahrhunderten von einem weißen, britischen Mann in einen Vampir verwandelt, der Teil einer kolonisierenden Macht war. Lydia ist das Ergebnis kolonialer Gewalt und darf nie vergessen, dass sie als Vampir den Tod und die unendliche Dunkelheit verkörpert. Weil ihr Körper und der ihrer Tochter eine Sünde sind, ernährt Julie sie nur mit Schweineblut. Sie glaubt, der Schmutz der Schweine sei genau das, was ihre Körper verdienen. Eine Ironie des Schicksals, wenn man bedenkt, dass Schweine nur wegen der Misshandlung durch den Menschen „schmutzig“ sind.
Ernährung und Konsum stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte. Lydia, die keine menschliche Nahrung zu sich nehmen kann, ist besessen von Essen und Kochen. In der dunklen Sicherheit ihres fensterlosen Studios verbringt sie Stunden auf dem harten Betonboden, schaut sich Videos und Kochserien an und scrollt durch Food-Posts, bis ihre Ängste und wirren Gedanken durch die Wiederholung betäubt werden.
Essen ist das Gegenteil von ihrem Vampir-Dasein und zumindest hat sie hochauflösende, digitale Inhalte, um sich vorzustellen, dass – so wie Schweineblut ihre unveränderbare Existenz nährt – der Verzehr verschiedener Lebensmittel verschiedene Teile ihrer Identität stärken würde. Wenn sie Soba, Ramen und Udon essen könnte, könnte sie ihre japanische Seite stärken, die sie von ihrem Vater hat. Wenn sie lokal angebautes Gemüse und vor der Küste gefangenen Fisch essen könnte, würde dies vielleicht ihre britische Identität hervorheben.
Julie, die immer mehr in die Demenz abrutscht, fragt nach malaysischen Süßigkeiten aus ihrer Kindheit – nach kuih talam pandan (gedämpfter Kokosnuss-Pandan-Kuchen), cendol (ein Dessert/Getränk) und pandan kalamae (eine klebrige Süßigkeit, die hauptsächlich aus Kokosmilch hergestellt wird). Aber die einzige Zutat, die Lydia kennt, ist Pandan, und zwar aus den sozialen Medien. Das Klischee „Du bist, was du isst“ hat definitiv eine humorvolle Note, aber die rissigen Verbindungen zwischen Essen und Identität haben Kohdas Buch besonders interessant für mich gemacht.
Es ist das Schweineblut, das Lydias Dämon unter Kontrolle hält, und wir finden schnell heraus, was passiert, wenn sie anderes Blut zu sich nimmt. Als sie zum ersten Mal Bens Blut saugt – aus einem Handtuch -, spürt Lydia, wie sich ihre Sinne verstärken und erweitern. Sie konsumiert seine Emotionen und ergreift kurzzeitig Besitz von seinen Erinnerungen. Sie trinkt das Blut einer Ente und spürt den Nervenkitzel des Fluges und wie sich das Wasser auf den seidenen Entenfedern anfühlt. Immer wenn sie etwas erbeutet, wird ihr Verlangen nach mehr überwältigend.
Lydias langsame Verwandlung in den Vampir, die Kreatur, die nur verzehren und besitzen will, ist fantastisch und grotesk. Als Leserin hatte ich nie das Gefühl, dass Claire Kohda mir eine akademische Abhandlung und Social-Media-Zitate über Traumata aufdrängt. Stattdessen gelingt es Kohda, eine ganz besondere Position zu erfassen: Die einer mixed-race Frau, die in einer weiß-männlich dominierten Welt um Anerkennung ringt; die eines Körpers, der eine verwirrende Mischung aus Kolonisierten und Kolonisatoren in sich tragen muss, und zwar durch den ganz einfachen Wunsch nach Essen.
Trotz einiger erschütternder Beschreibungen macht dieses Buch hungrig – oder zumindest hat es mich hungrig gemacht. Aber Lydia und ich konsumieren beide Unmengen an Kochsendungen und lebensmittelbezogenen Inhalten. Schweineblut ist nicht die Speise der Sünder*innen, sondern eine traditionelle Zutat in den Küchen der Welt.
In einem Artikel in einem renommierten US-amerikanischen Koch-Magazin wurden Köch*innen in ganz Nordamerika dafür gelobt, Blut in die Küche zurückzubringen. Wie die meisten westlichen Publikationen, die über nicht-westliche Zutaten schreiben, enthielt der Artikel die klassische Kehrtwende. Die Verwendung von Blut ist üblich und zeugt von Respekt, weil das ganze Tier verwendet wird. Aber nur die besten Köch*innen können mit dieser Zutat umgehen und nur die abenteuerlustigsten Gäste werden diese Gerichte bestellen.
Wenn Lydia nur gewusst hätte, dass Blut in ist.
(Die deutsche Übersetzung von Barbara Schaden erscheint 2024 im btb Verlag)
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