Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen
Ailton Krenaks Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen (aus dem Brasilianischen übersetzt von Michael Kegler) ist ein schmaler Band voller wichtiger Ideen. Der Titel ist, wie Krenak sagt, eine Provokation. Er hatte ihn ganz spontan für einen Vortrag an der Universität von Brasilia gewählt. Krenak ist Philosoph und setzt sich aktivistisch für eine sozial-ökologische Transformation und die Rechte indigener Menschen aus den Krenak-Gebieten entlang des Doce Rivers ein.
Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen ist ein Sachbuch, das einige von Krenaks Vorträgen und Interviews der vergangenen Jahre vereint. Es beginnt im April 2020, in den frühen Tagen der Pandemie und damit in einem Moment, in dem die Zukunft extrem ungewiss ist. Krenak verurteilt Jair Bolsonaro und die Nekropolitik seiner Covid-Politik, deren Preis insbesondere die marginalisierten Communitys in Brasilien zahlen mussten. Er beschreibt, wie problematisch die Verherrlichung der Idee des „Fortschritts“ ist, die u.a. im Kolonialismus wurzelt. Denn diejenigen, die sich dem sogenannten Fortschritt verweigern, werden gewaltsam von dem System ausgeschlossen, in dem er als wünschenswert gilt. Wenn indigene Gruppen den Fortschritt ablehnen, aber in Gesellschaften leben, die kapitalistischen „Wachstum“ als wünschenswert erachten – was meist mit einer rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen einhergeht –, dann hat dies ihre gewaltsame Marginalisierung zur Folge.
Krenak spricht sich dafür aus, ein allumfassendes „Wir“ für Menschen und Nicht-Menschen zu erschaffen und verweist in Anlehnung auf Boaventura de Sousa Santos auf die große Bedeutung der Wissensökologie. Das heißt, er spricht ein Plädoyer dafür aus, dass Menschen sich für die enorme Wissensvielfalt über die Welt sensibilisieren sollten und dass keine Wissensform allein Vollständigkeit beanspruchen kann. Beziehungen zu Flüssen, Wäldern und der Umwelt generell sind ein integraler Bestandteil seines Nachdenkens über Formen kolonialer und epistemischer Gewalt. Krenak motiviert, sich kritisch mit Nachhaltigkeit als Marketinggag auseinanderzusetzen, der dem Greenwashing in einer noch immer auf ausbeuterischem Kapitalismus basierenden Branche dient. Und er spricht herzzerreißend über die Vergiftung des Watu durch einen geplatzten Damm, dem Abschnitt des Doce River, mit dem sein Volk seit Generationen zusammenlebt.
Mein Wissen über die Folgen des Kolonialismus im heutigen Brasilien ist sehr begrenzt, weshalb ich dieses Buch in einem Rutsch gelesen und faszinierend viel gelernt habe. Es bildet kein narratives Ganzes, sondern ist, wie der Titel schon andeutet, eine Ideensammlung. Viele dieser Ideen stimmen mit anderen vom Kolonialismus betroffenen Kontexten überein, aber gerade die ortspezifischen Details machen dieses Buch zu einer lohnenswerten Lektüre.