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Mein Jahr im Wasser: Tagebuch einer Schwimmerin

Jessica J. Lee, Tochter eines Walisen und einer Taiwanesin, wuchs in Kanada auf. Auf Umwegen über London gelangte sie nach Berlin. In ihrem Buch Mein Jahr im Wasser: Tagebuch einer Schwimmerin berichtet Lee davon, wie das Schwimmen in Berliner und Brandenburger Seen ihr nicht nur half, sich in dieser Gegend zu Hause zu fühlen, sondern auch eine schmerzhafte Liebesgeschichte und Ängste ihrer Kindheit aufzuarbeiten. Die Landschaft, in der sie versucht sich selbst wieder zu finden, ist kein unbeschriebenes Blatt.

So verbindet Lee ihre ganz persönliche Geschichte, die geprägt ist von Migration und Ortswechseln, mit historischen Bruchstücken über Berlin und Brandenburg, Naturbeobachtungen und Referenzen zu Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg.

Mit 28 Jahren befindet Lee sich allein und mit gebrochenem Herzen in Berlin. Zu allem Überfluss muss sie ihre Doktorarbeit in Umweltgeschichte abschließen, was eine einsame und stressige Arbeit ist. Nach einigen Monaten der Depression, beschließt sie, dass Schwimmen sie vielleicht heilen könnte, dass ihre Gefühle von Angst, Einsamkeit und Schmerz vielleicht mit dem Wasser von ihr abgewaschen werden könnten. Im Sommer plant sie, in den kommenden 365 Tagen in 52 Seen in und um Berlin zu schwimmen. Als Person, die Regeln schätzt, stellt sie sich selbst als weitere Bedingungen, dass ihr normales Leben weitergeht, Freund*innen sie hin und wieder begleiten dürfen, sie aber nie ein Auto oder einen Neoprenanzug mitnehmen wird – auch nicht im Winter. In Mein Jahr im Wasser beschreibt Lee also ihre Schwimmerlebnisse und oft auch die Anfahrt mit der Bahn, zu Fuß und mit dem Rad.

Im Genre des nature writing wird nicht nur subjektiv die Natur und das eigene Empfinden betrachtet, immer wieder taucht das Motiv der Suche auf. Lee sucht auch – hauptsächlich sich selbst. Sie macht aber deutlich, dass nicht jeder ihrer Ausflüge in die Natur erfolgreich ist. Nicht jedes Mal hat ihr Schwimmen die erlösende Wirkung auf sie, ihre Stimmung und Wahrnehmung zu verändern. Manchmal ist das Schwimmen einfach nur schrecklich und frühere Ängste vor der dunklen Tiefe, die sich unter ihr auftut, kehren zurück. Lee mochte das Schwimmen nicht immer. Rückblicke in ihre kanadische Kindheit offenbaren, dass sie sich lange Zeit weigerte in Wasser zu gehen, das kein künstliches Schwimmbecken war, obwohl ihre Familie, wie so viele in Kanada, die Sommer in einem Cottage am See verbrachte. Mit den Szenen, in denen Lee bei ihrer eigenen Suche in der Natur ihren Ängsten begegnet, zeigt sie eine Haltung, die als Empfindsamkeit oder Sanftheit sich selbst gegenüber beschrieben werden kann. Sie scheint sich selbst und ihren Leser*innen vermitteln zu wollen, dass es manchmal einfach nicht so gut läuft, aber beim nächsten Mal ist das Schwimmen möglicherweise wieder der beste Moment der Woche.

Lee gelingt der Balanceakt in ihrem literarischen Tagebuch, viele verschiedenen Stränge zu verbinden und neben dem Fokus auf sich selbst, andere Perspektiven wahrzunehmen und darzulegen. Lee lädt ein, über die Vielschichtigkeit von Identitäten nachzudenken, über das, was Freundschaften, Partnerschaften und Familien zusammenhält oder auseinandertreibt, über die schöne, einladende Landschaft rund um Berlin, die gleichzeitig von der Nazizeit, der Deutschen Teilung und aktuellem Rechtsextremismus spricht.

Das Buch drückt eine Sehnsucht aus, eine Art nostalgisches Heimweh, das aber nicht direkt an einen einzigen Ort gebunden ist, sondern in kleinen Teilen hier und dort gefunden werden kann. U.a. findet sich dieses wenig greifbare Gefühl laut Lee in der Vertrautheit und dem innigen Erleben der umliegenden Landschaft. Mein Jahr im Wasser ist ein Buch für alle, die gerne schwimmen, einen reflektierten Blick ins menschliche Innere schätzen oder über Berlin lernen wollen. Lee schafft es sicherlich auch, Langzeit-Berliner*innen mit ihrer wertschätzenden und sanften Perspektive wieder neu für die Schönheit der Region und ihre geschichtsträchtigen Gespenster zu sensibilisieren.

Übersetzung ins Deutsche von Nina Frey, Hans-Christian Oeser, 2017 im Piper Verlag erschienen (Englisches Original 2017 bei Virago Press)

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