Dekolonisierung ist keine Metapher
Mit poco.lit. möchten wir u.a. Schlüsselideen der Postcolonial Studies entmystifizieren, wie z.B. hier und hier. In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf den Artikel „Decolonization is not a metaphor“ (Dekolonisierung ist keine Metapher), der 2012 von Eve Tuck und K. Wayne Yang veröffentlicht wurde. Darin liefern sie schlagkräftige Argumente gegen den übermäßigen Gebrauch des Begriffs „Dekolonisierung“. Immer mehr Initiativen bezeichnen sich selbst als „dekolonial“ und der Begriff „Dekolonisierung“ ist in den letzten Jahren in unzähligen Mainstream-Diskursen angekommen – von Straßennamen bis hin zu Museumssammlungen. Deshalb scheint es so, als seien Tuck und Yangs Argumente heute mindestens genauso relevant wie vor über zehn Jahren, als ihr Artikel erschien, auch wenn ihr Aussagen für viele Menschen mit Sympathien für die Dekolonisierung oder antikoloniale Bestrebungen ernüchternd sein können.
Tuck und Yang sprechen sich gegen die Verwendung des Begriffs „Dekolonisierung“ aus, wenn es sich nicht um dekoloniale Bestrebungen im eigentlichen Sinne handelt. Ihnen zufolge sollte „Dekolonisierung“ nicht im abstrakten oder metaphorischen Sinne verwendet werden. Viele Menschen, die sich für Social Justice engagieren, mögen ihre Arbeit oder ihren Aktivismus als dekolonial bezeichnen (wollen), aber das bedeutet nicht, dass sie tatsächlich die Dekolonisierung vorantreiben. So zu tun, als ob sie das täten, bedeutet, alle Arten von Unterdrückung als Kolonialismus zusammenzufassen (was verflachend und reduzierend ist). Im schlimmsten Fall kann so eine Verwendung des Begriffs kontraproduktiv für die echte Dekolonisierung sein.
Tucks und Yangs Argumentation stützt sich auf den spezifischen Kontext des Siedlungskolonialismus. Bei dieser Art von Kolonialismus kommen die Kolonisator*innen, um zu bleiben, wie es so schön heißt. Das betrifft z.B. Australien, Kanada und die USA (der letzte Kontext ist der, auf den sich Tuck und Yang konzentrieren). Entscheidend ist, dass in Siedlerkontexten die Kolonisierung fortgesetzt wird; die koloniale Besetzung hat nie geendet. Tuck und Yang formulieren daher ein präzises Verständnis von Dekolonisierung: Es geht um die Rückgabe von Land an indigene Gruppen. Die Souveränität der Indigenen wurde nie aufgegeben und die Anwesenheit der Siedler*innen ist im Grunde illegitim.
Das Problem bei einer zu oberflächlichen Verwendung des Begriffs „dekolonial“ für Praktiken, die die Gesellschaft gerechter machen sollen, ist die daraus folgende Annahme, dass diese Vorhaben ähnliche Ziele verfolgen würden, auch wenn sie überhaupt nicht kompatibel sind. Antikapitalistische Proteste wie die Occupy-Bewegung z.B. zielen nicht darauf ab, das koloniale System abzuschaffen und die Besetzung von indigenem Land endlich zu beenden. Die Umverteilung des Reichtums, die solche Bewegungen fordern, würde nicht dazu führen, dass indigenen Gruppen ihr Land zurückgegeben würde. Vielmehr werden Vorstellungen von Land als Eigentum, das Menschen gehören kann, reproduziert und aufrechterhalten.
Ein weiteres Problem ist, dass die übermäßige Verwendung des Begriffs dekolonial ihn entleert. (Tuck und Yang sprechen an dieser Stelle von „unsettling“, was eine direkte Anspielung auf den „settler colonialism“, den Siedlungskolonialismus, ist.) Die Metaphorisierung ermöglicht, dass die Siedler*innen sich auf den Weg der Unschuld begeben („settler moves to innocence“), was ihnen ermöglicht, sich von verschiedenen Formen der Komplizenschaft mit dem fortbestehenden Kolonialismus und seinen Systemen zu distanzieren – auch davon, wie sie selbst Profit aus ihnen schlagen.
In diesem Rahmen ist antikoloniale Kritik nicht dasselbe wie dekoloniale Arbeit, weil sie nicht versucht, den Kolonialismus rückgängig zu machen, sondern ihn neu zu gestalten oder zu untergraben. Im Wesentlichen beinhaltet die antikoloniale Kritik eine stillschweigende Akzeptanz von Systemen und Strukturen, die laut Tuck und Yang im Sinne der Dekolonisierung eine radikale Umgestaltung erfordern würden. Es ist notwendig anzuerkennen, was an diesen verschiedenen Projekten und Bestrebungen unvereinbar ist, was niemals zusammenkommen wird.
Ihre Intervention wirkt womöglich wie ein kleiner Wermutstropfen, insbesondere für diejenigen, die sich aktiv für Social Justice engagieren und versuchen solidarische Brücken zwischen Projekten zu bauen, die sich für (z.B.) Gerechtigkeit oder gegen Rassismus einsetzen. Tuck und Yang weisen jedoch darauf hin, dass ihre Erkenntnisse dazu beitragen können, Frustrationen abzubauen und zu verstehen, dass einige Allianzen immer nur flüchtig und für den Moment sein können – oder sogar sein sollten. Sie wissen, dass sich das unangenehm anfühlen kann. Aber sie betonen, wie wichtig es ist, sich wieder darauf zu besinnen, was Dekolonisierung eigentlich bedeutet.
Auf viele, besonders wenn sie im Bereich des Postkolonialismus arbeiten, sich aber nicht explizit mit Siedlungskolonialismus auseinandersetzen, kann dieses Verständnis von Dekolonisierung zu radikal und einschränkend wirken. Tucks und Yangs Argumentation setzt ein spezifisches Verständnis von Kolonialismus voraus, dass nur einige der globalen Kolonialprojekte berücksichtigt. Doch ob Leser*innen Tuck und Yang zustimmen oder nicht, Dekolonisierung nicht nur als Metapher zu verstehen, ist ein wichtiger Aufruf anzuerkennen, dass der Begriff häufig oberflächlich verwendet wird und bestimmte Aspekte verschleiert – z.B., dass der Kolonialismus in Siedlungsgesellschaften immer noch existiert.