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Mit Hannah Arendt über Imperialismus nachdenken

Wenn Sie an Hannah Arendt denken, ist Ihre erste Assoziation wahrscheinlich nicht ihr Beitrag zum Thema Imperialismus. Arendts wohl berühmtesten Werke sind Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955) und Eichmann in Jerusalem (1963). Letzteres erschien zunächst in einer Reihe von Artikeln im New Yorker und berichtet über ihre Beobachtungen im Prozess gegen Adolf Eichmann. Eichmann in Jerusalem sorgte bei Veröffentlichung und auch in Folge für Furore, weil das Narrativ als eines des victim blamings verstanden wurde. Arendt war und ist in mehr als einer Hinsicht eine umstrittene Figur und Denkerin – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie sich in den 1950er Jahren gegen die Aufhebung der Segregation an Schulen in den USA aussprach. Feministinnen, die in der Arbeit dieser so angesehenen Politikwissenschaftlerin und Philosophin Argumente für feministische Anliegen finden wollen, werden enttäuscht: Die „Frauenfrage“, so Arendt, habe sie nie besonders interessiert. Dennoch bleiben Arendts Werke voller Denkanstöße, die immer wieder aufgenommen und weitergeführt werden. In Diskussionen über die Migration nach Europa im Jahr 2015 besannen sich Wissenschaftler*innen Arendts erneut als eine der zentralen Denkerinnen in Bezug auf Geflüchtete und „Staatenlose“; und ihre Aussage über das „Recht, Rechte zu haben“ wird immer noch vielfach zitiert.

Derzeit und noch bis zum 18. Oktober 2020 ist im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin eine Ausstellung über Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert zu sehen. Die Ausstellung schafft es erfolgreich, einen Überblick über Leben und Werk der 1906 in der Nähe von Hannover geborenen Frau zu geben, die bei Martin Heidegger Philosophie studierte, 1933 vor dem Nationalsozialismus nach Paris und 1941 in die USA fliehen musste, wo sie 1951 Staatsbürgerin wurde. Wunderbares Filmmaterial von ihr zeigt, wie sie sich ketterauchend ihren Weg durch Interviews bahnt – und einen Moment, in dem sie ihre Ansicht zum Ausdruck bringt, dass es an Frauen nicht gut aussehe, Befehle zu erteilen. Weniger fesselnd erschienen mir ihr Pelzmantel und Schmuck als Ausstellungsstücke.

Mein Interesse an der Ausstellung wurde dadurch geweckt, dass ich kürzlich Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen habe, das – schade für mich – nur einen relativ kleinen Teil der Ausstellung ausmachte. Im zweiten Teil dieses dicken Buches – zwischen Abschnitten über Antisemitismus und Totalitarismus – diskutiert Arendt den Imperialismus. Sie tut dies, weil die Ära des Übersee-Expansionismus, die in den 1880er Jahren an Dynamik gewann, für sie ein konstitutives Moment im Aufbau der Diskurse und politischen Instrumente darstellt, die den „Totalitarismus“ der Nazis und der Sowjets ermöglichten. Wie bei einigen ihrer anderen Ansichten gibt es auch hier viel zu kritisieren, aber ebenso sehr laden einige faszinierende Beobachtungen ein, weitergedacht und produktiv gemacht zu werden. Ich hätte mir gewünscht, dass die Ausstellung im DHM diese Facette von Arendts Werk kontextualisiert, da sie relevant für unsere Gegenwart ist – bzw. sich dissonant zu ihr verhält.

Arendt zufolge hinterließ der Imperialismus dem Totalitarismus zwei Werkzeuge, ohne die die nachfolgenden nationalsozialistischen und kommunistischen Bewegungen unvorstellbar gewesen wären: Es handelt sich um die bürokratische Regierungsform und Herrschaft basiert auf race. Der britische Imperialismus in Indien hat, wie sie sagt, eine Verwaltung auf dem Subkontinent hervorgebracht, die durch Bürokratie und Administration regierte und jegliche Revolte durch „administrative Massaker“ unterdrückte. Rudyard Kipling ist der Autor schlechthin, der uns nicht nur das berühmtberüchtigte Gedicht „The White Man‘s Burden“ (Die Bürde des weißen Mannes) lieferte. Er verfasste auch den Roman Kim, der unter dem Deckmantel einer Abenteuer-Spionage-Geschichte beschreibt, wie durch den British India Survey kartographische und ethnographische Daten zur Verbesserung der Verwaltung von kolonisierten Gebieten gesammelt werden sollten – d.h. wie bürokratisches Futter zusammengeklaubt werden kann.

Race als Herrschaftsinstrument war, so Arendt, quasi ein Geschenk des Sonderfalls Südafrika. Südafrika gilt hier als Sonderfall, weil es nicht als Siedlungskolonie vorgesehen war und bis zur Entdeckung von Diamanten in Kimberly nur instrumentellen Wert als Zwischenstation auf dem Weg nach Indien hatte. Das Land war zu wenig einladend und die einheimische Bevölkerung zu zahlreich, um als attraktiver Aufenthaltsort für europäische Kolonialherren in Erwägung gezogen zu werden. Aber genau das taten die „Buren“, die Nachfahren der frühen holländischen Siedler am Kap (um das heutige Kapstadt). Arendt stellt es so dar, dass die Buren als erste eine Gesellschaft nach Race einteilten, und erklärt dann, dass ihrer Sicht nach die Buren zwar den südafrikanischen Krieg gegen die Briten verloren, sie aber dennoch die übrigen europäischen Mächte von ihrer Idee der „Rassengesellschaft“ überzeugen konnten. Für Arendt sieht es so aus, dass die Nazis von solchen Beispielen auf dem afrikanischen Kontinent lernten – zum Beispiel, dass die Rassenideologie das Profitmotiv letztendlich übertrumpfte, da die Buren sich wiederholt bereit zeigten, für die Aufrechterhaltung der Strukturen weißer Vorherrschaft auf wirtschaftlichen Gewinn zu verzichten.

Der Autor, auf den sie sich in ihrer Diskussion über den Imperialismus in Afrika stützt, ist Joseph Conrad, genauer gesagt sein Roman Herz der Finsternis (1933) – sie behauptet sogar, dass die reale Inspiration für Kurtz, der geheimnisvollen zentralen Figur des Buches, möglicherweise der deutsche Kolonist und Génocidaire Carl Peters war. Es gibt einige überaus unangenehme Momente in Arendts Verhandlung von Herz der Finsternis. Conrads Roman ist bekanntermaßen problematisch, und es ist gleichzeitig paradox und gar nicht so ungewöhnlich, dass Arendt in ihrem Versuch Rassismus zu verstehen auf Conrads rassistische Darstellungen afrikanischer Völker als zutreffend zurückgreift. Sie drückt es so aus, dass es das aufschlussreichste Werk über die tatsächliche Erfahrung von Race in Afrika sei. Ich muss gar nicht mehr sagen, dass das natürlich nicht stimmt.

Was Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft meiner Ansicht nach anbietet, ist ein Denkanstoß für ein tieferes Verständnis darüber, wie rassistische Logik und Diskurse in verschiedenen Kontexten zirkulieren und instrumentalisiert werden. Damit hilft es auch heute noch zu verstehen, wie Rassismus funktioniert. Auch wenn Arendt den südafrikanischen Buren die Entwicklung der ersten echten Rassengesellschaft zuschreibt, beginnt die Vorstellung von der essentiellen, natürlichen und rassistischen Überlegenheit eines Volkes gegenüber einem anderen viel früher; sie verortet die Ursprünge des Rassismus-basierten Denkens in Frankreich im 18. Jahrhundert.

Durch den so genannten Bumerang-Effekt des Kolonialismus fanden Diskurse oder Ansätze, die sich in den Kolonien als nützlich erwiesen hatten, ihren Weg zurück nach Europa und wurden zu anderen Zwecken genutzt oder traten dort in abgewandelter Form ebenfalls auf. Rassistische Vermächtnisse sind selbstverständlich nicht aus dem Nichts heraus entstanden, sie funktionieren auch nicht völlig eigenständig. Mit einem Umfang von 630 Seiten ist Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schwerlich ein leichtfertig zu empfehlendes Buch, doch es bietet die Möglichkeit, ausführlich und in Ruhe über die rassistischen Instrumente nachzudenken, die der Imperialismus geerbt, weiterentwickelt und verbreitet hat. Da die Gegenwart nach wie vor von rassistischen Diskursen und Mechanismen geprägt ist, wäre es für die Ausstellung des DHM eine wertvolle Chance gewesen, einige ebendieser Aspekte von Arendts Werk näher zu beleuchten.

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