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Afropolitismus als Identität: Taiye Selasi

Dieser Essay ist der Erste einer vierteiligen Serie zu Afropolitismus und Literatur. Der Begriff Afropolitismus setzt sich aus Afrika und Kosmopolitismus zusammen. Menschen afrikanischer Herkunft, die heute hier und Morgen dort leben, prägten diesen Begriff, um ihren mobilen Lebensstil und die daraus resultierende Kreativität und politische Haltung zu beschreiben. Mit dem Streben nach einer radikalen Offenheit schaffen Afropolit*innen vielfältige, kreative Visionen, in denen Menschen afrikanischer Herkunft überall gleichberechtigt dazugehören – auch in Europa.

Der Name der Schriftstellerin Taiye Selasi steht in direkter Verbindung zu dem Begriff Afropolitismus. Sie wird häufig als diejenige genannt, die den Begriff als erste in die Welt setzte. Selasi veröffentlichte im Jahr 2005 ihren kurzen Essay „Bye-bye Babar (Or: What is an Afropolitan?)“, der viral ging. Viele Menschen konnten sich mit Selasis Ausführungen identifizieren: Sie beschreibt sich selbst als Teil einer ganz bestimmten Generation von Menschen afrikanischer Herkunft mit einem mobilen Lebensstil. Sie diskutiert die gegenwärtige afrikanische Diaspora und die Hürden, die ihr im Alltag begegnen.

Selasi ist eine gebildete Schwarze Frau, die in England geboren wurde und in den USA aufwuchs als Teil einer nigerianisch-ghanaischen Familie. Sie studierte in Yale und Oxford und lebt schon lange immer für ein paar Jahre an unterschiedlichen Orten auf der ganzen Welt. Wegen ihrer eigenen Mobilität und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern, passen viele etablierte Kategorien oder Einordnungsversuche, wer sie ist, nicht zu ihr. Selasi erklärt vehement, dass sie nicht aus Ghana ist, aber familiäre und emotionale Verbindungen zu Accra hegt. Genauso wenig sieht sie sich als US-Amerikanerin, aber sie fühlt sich in Brookline und New York zu Hause. In den letzten Jahren lebte sie in Rom, Berlin und Lissabon. Nirgendwo gehört sie ganz dazu. Selasi macht deutlich, dass Menschen wie sie konstant zwischen allen Stühlen sitzen. Deshalb müssen sie sich in ihrem Leben mit Fragen nach Nationalität, „Race“ und Kultur auseinandersetzen. Diese drei Dimensionen stellt Selasi als Stellschrauben der Zugehörigkeit vor. Das persönliche Hinterfragen von Nationalität, „Race“ und Kultur führt letztendlich zu einer afropolitischen Haltung.

2013 veröffentlichte Selasi ihren ersten Roman „Die Dinge geschehen nicht einfach so“. Der Roman bietet Einblicke in die menschlichen Erfahrungen, die laut Selasi Teil der afropolitischen Identität sind. Damit nuanciert „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ die afropolitischen Ideen des Essays „Bye-bye Babar“.

Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Sai, die aus dem ghanaischen Vater Kweku, der nigerianisch-schottischen Mutter Folasadé und den vier in den USA geborenen Kindern Olu, Taiwo, Kehinde und Sadie besteht. Alle Charaktere bewegen sich zwischen verschiedenen Welten und sind wahnsinnig talentiert und ehrgeizig. Privatschulen, Ivy League Universitäten, Musik- und Zeichenunterricht prägen das Leben der Kinder. Doch obwohl Selasis Charaktere Überflieger*innen sind, geht es ihnen nicht gut. Ihnen fehlt ein Gefühl von Verwurzelung, von vollständiger Zugehörigkeit und tieferes Wissen über ihre Eltern und deren Migrationsgeschichten. Das Leben der Sai Familie wird bestimmt von Mobilität und Reisen, davon sich an neuen Orten – und somit in neuen Welten oder Milieus – zu beweisen. Sie werden immer von der herausfordernden Frage begleitet, wer sie eigentlich sind.

Die Familie beginnt auseinander zu brechen, als Kweku wegen falscher Anschuldigungen von einflussreichen, weißen Patient*innen seinen Job als Chirurg im Krankenhaus verliert. Nach dieser rassistischen Demütigung, traut er sich nicht mehr, seiner Familie in die Augen zu sehen. Kweku verschwindet nach Ghana und Fola muss die Kinder alleine großziehen, die mehr schlecht als recht mit den neuen Umständen zurechtkommen. Sie driften auseinander und treffen sich erst alle wieder, als Kweku überraschend stirbt. Dieses tragische Ereignis führt zu einem unerwarteten Familientreffen in Ghana. Angestoßen durch das Treffen, stellen sich alle ihren eigenen Schwierigkeiten und finden einen gewissen Halt in sich selbst.

In „Die Dinge geschehen nicht einfach so“ stellt Selasi die individuellen Kämpfe, die ihre Charaktere mit sich selbst austragen, in den Vordergrund. Manche Szenen spielen in den USA, andere in Nigeria oder Ghana, aber nichts an dem Roman kann als typisch „afrikanisch“ verstanden werden. Die verschiedenen Orte dienen viel mehr dazu, zu zeigen, dass die Sais große Distanzen zurücklegen müssen, um sich selbst zu finden. Obwohl es eine Herausforderung ist, nicht vollständig zu einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Ort zu gehören, scheint diese Realität sich letztendlich zu einem afropolitischen Privileg zu entwickeln. Es bleibt der Verlust einer kohärenten Familiengeschichte, aber gleichzeitig tun sich vielfältige Perspektiven auf Lebensführung und globale Angelegenheiten auf. So können Afropolit*innen informierte, politisch relevante Entscheidungen treffen und sich für eine bessere Zukunft einsetzen.  

Mit dem Erwachsenwerden, werden die Charaktere sich klarer über ihre Identität und damit entsteht ein afropolitisches Selbstverständnis: mobile Lebensstile führen zu einer Hybridkultur, die sich in einem stetigen Wandel befindet. Persönliche Erfahrungen an verschiedenen Orten formen vielschichtige, anpassungsfähige, hinterfragende Persönlichkeiten. Identitäten können nicht in unflexiblen Kategorien wie US-amerikanisch, afrikanisch, Schwarz oder Yoruba festgehalten werden. Identitäten entwickeln sich durch persönliche Erfahrungen.

Das spezifisch afrikanische an diesem Kosmopolitismus ist der Wunsch, stereotypen Bildern von Afrikanischsein entgegenzuwirken. Der Fokus auf individuelle Erfahrungen verhindert das Verfallen in Klischees. Genau darin liegt das politische Element von Afropolitismus: Während sich Afropolit*innen an vielen, spezifischen Orten dieser Welt ein zu Hause aufbauen können, sind sie sich bewusst, dass ihre afrikanische Herkunft immer eine Bedeutung hat – wenn auch immer eine unterschiedliche. Afrika wird zentriert und aus der Generalisierung befreit. Aber auch wenn ein zu Hause Gefühl möglich wird und Klischees bekämpft werden, sind Afropolit*innen nach wie vor nicht sicher vor Diskriminierungserfahrungen.

Selasis Arbeit und ihre schillernde Autorinnenpersönlichkeit erlebten seit „Bye-bye Babar“ immensen Zuspruch und ebenso viel Kritik. Viele identifizieren sich mit ihren Ideen und erschaffen mit Begeisterung ebenfalls Geschichten und Bilder von Afrika, die nicht hauptsächlich von Vorurteilen wie Krise und Not geprägt sind. Kritische Stimmen finden aber, dass Selasis Ideen sich zu stark auf eine privilegierte Gruppe Menschen afrikanischer Herkunft konzentrieren, die freiwillig um die Welt reisen. So mache Selasi andere afrikanische Lebenswelten unsichtbar. Die Kritik ist durchaus begründet. Doch Selasis Fokus auf mittelständische Afropolit*innen heißt nicht, dass es noch ganz andere afropolitische Geschichten geben würde. Aber weniger privilegierte Positionen innerhalb des afroplitischen Diskurses werden nahezu unsichtbar gemacht und bekommen weniger öffentliche Aufmerksamkeit.

Für Einblicke in andere afropolitische Perspektiven finden Sie von Mai bis August 2020 monatlich einen weiteren Essay zu dieser Thematik.

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