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kurdischer film und postkolonialismus

Kurdistan in VHS – Die postkolonialen Fragen des kurdischen Films

„In an alienated world, culture – obviously – is a deformed and deforming product. To overcome this it is necessary to have a culture of and for the revolution, a subversive culture capable of contributing to the downfall of capitalist society”.

1970 beginnen Fernando Solanas und Octavio Getino mit diesen Worten ihren Essay Towards A Third Cinema und schaffen einen der wichtigsten Beiträge für das theoretische Fundament des antikolonialen und antikapitalistischen Kinos. In ihrem Essay beschreiben sie die Entwicklungen im lateinamerikanischen Guerilla-Film und appellieren für eine emanzipatorische Kulturpraktik, welche Kunst als Teil des Widerstands auffasst. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelt sich das Third Cinema zu einer globalen Filmbewegung der kolonialisierten Gesellschaften. Die Fragen nach der Widerständigkeit der Kunst und der kulturellen Identität abseits vom Blick des Kolonialisten sind Themen, die für viele rassifizierte Subjekte zu Kernauseinandersetzungen wurden und sich wiederfinden in zahlreichen Beispielen aus postkolonialer Literatur, Theorie und Kunst. In seinem künstlerischen Werk greift auch der kurdische Regisseur Yilmaz Güney die Frage nach antikolonialem Widerstand in der Kunst auf und damit die Fragen des Postkolonialismus – oder, um es mit den Worten von Stuart Hall zu sagen, der Frage nach dem „was wir sind und was wir – da die Geschichte eingegriffen hat – geworden sind“. Aber auch das geschah nicht über Nacht. Viel eher ist Güney sowie das kurdische Kino zu verstehen als eine permanente Aushandlung mit der kulturellen Identität und ihrer Widerständigkeit.

Geboren im Gefängnis – Yilmaz Güney und das antikoloniale Kino

Sie sollten sich im Vorhinein darüber streiten. Das erzählte der türkische Schauspieler Tarik Akan fast dreißig Jahre später in einem Interview. Schon vor dem Treffen wusste er es vermutlich bereits. So wirkt es jedenfalls, wenn Akan den Gang ins Gefängnis schildert. Dort wartete auch bereits der Regisseur auf ihn, welcher aus seiner Zelle heraus nur die Anweisungen geben kann, mit denen sein Film realisiert werden soll. Akan beschreibt, wie sie sich gegenübersitzen und er dem großen kurdischen Regisseur Yilmaz Güney schildern muss, dass er seinen eigenen Protagonisten falsch verstanden hat. Wie man ihn nicht seiner Tränen berauben kann, wenn er um seine Frau trauert. Am Ende bleibt sie drin, die Szene, welche Sensibilität spüren lässt in einem Film, der versucht die Heterogenität der kolonialen Erfahrung in der Omnipräsenz der Gefangenschaft zu artikulieren.

Bettlaken spannte er über die Mauern seiner Gefängniszelle und sah sich seinen Film Stück für Stück gemeinsam mit den anderen Inhaftierten an. Die Bedingungen, unter denen die Filme entstanden sind, kann man sich nur schwer vorstellen. Als politischer Gefangener wurde Yilmaz Güney nach dem Militärputsch 1980 unter Kenan Evren vom politischen Aktivisten und landesweit bekannten Filmstar zum Inhaftierten. Seine Filme wurden verboten und verbrannt. Nicht nur die, in denen er Regie führte, sondern auch sein Werk als Schauspieler sollte für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich gemacht sein. Durch seine Frau – die elf seiner Filme ins Ausland schmuggelte – und durch die Überlieferungen in den VHS-Kassettenregalen der kurdischen und türkischen Gastarbeiter:innen in Europa blieb sein Werk erhalten und fand seinen Weg zurück zu einem breiten Publikum. 1983 gelingt Güney die Flucht nach Europa. Der hässliche König – wie er sich selbst nannte – gründete das Kurdische Institut in Paris und lebte dort bis zu seinem frühen Tod 1984. Viele Filme, die in dieser Zeit geplant worden sind, konnten so nicht mehr umgesetzt werden. Lange Zeit wurde es still um das kurdische Kino. Zwanzig Jahre dauerte es, bis seine Einflüsse es erneut ins Kino schafften. Eine neue Generation kurdischer Regisseur:innen entstand, die sich – so wie auch Güney – dem kolonialen Blick entgegen stellten und die Aushandlungen der kurdischen Identität weiterführten. Regisseur:innen wie Ayşe Polat und Hiner Saleem widmeten sich den Fragen nach Identität, Unterdrückung und der Subversivität im Kino.

Dem kolonialen Blick entgegen

Dabei handelte es sich nicht immer um ein leichtes Unterfangen. Unter Jahrhunderte langer Unterdrückung entwickelte sich die Frage danach was überhaupt kurdisch ist zu einem Anliegen, welches nicht von ungefähr an Frantz Fanons Aushandlungen in Schwarze Haut, weiße Masken (1952) erinnert. Auch hier findet sich die Aufgabe, Identität nicht in der Abwesenheit des Kolonialismus zu betrachten und sie gleichzeitig nicht im kolonialen Blick zu reproduzieren. Die Cinematologie von Yilmaz Güney bietet ein Beispiel für den internalisierten Kolonialismus. So argumentiert Tim Kennedy in Cinema Regarding Nations (2007), dass Güneys Frühwerke durchdrungen sind vom Narrativ der unterentwickelten Kurd:innen. Gefangen in der Logik der Repräsentation betrachtet Güney die Problematik der Kurd:innen und reproduziert so in Filmen wie Arkadas (1975) oder Sürü (1979)das Bild des feudalen und bildungsfernen Kurdistans in der Türkei. Damit wird das Atatürk‘sche Leitbild weitergesponnen und ermöglicht keine gegenhegemoniale Perspektive auf die kurdische Identität. Erst mit seinem Spätwerk wird Güney zum Filmemacher des antikolonialen Widerstands. Sein Film Yol (1982) wird zum internationalen Erfolg und gilt bis heute als der wichtigste Film des kurdischen Kinos. Güney selbst sah dies als die Zäsur, welche ihn zu einem antikolonialen Filmemacher werden ließ und ihn so zum Teil des Third Cinema machte.

In seinem Essay Kulturelle Identität und Diaspora (1993) beschäftigt sich auch Stuart Hall mit den verschiedenen Perspektiven, anhand derer kulturelle Identität gesehen werden kann. Entlang des karibischen Films argumentiert Hall, dass das Bild von Identität als eine fester und gleichbleibender Referenzrahmen für kolonialisierte Subjekte nicht ermöglicht kulturelle Identität tatsächlich zu artikulieren. Hall stellt demgegenüber eine weitere Möglichkeit, welche versucht nicht die Nacherzählung einer Kultur aus vorkolonialen Zeiten zu zeichnen, sondern sich damit beschäftigt, was durch den Eindruck der kolonialen Erfahrung geworden ist. Die Frage nach der kulturellen Identität kann somit bei Hall nicht mehr als eine exakte und allgemeingültige kollektive Erfahrung gesehen werden, sondern definiert sich viel eher durch die „Frage des Werdens wie des Seins“, welche dem kolonialisierten Subjekt ermöglicht sich selbst in ständiger Veränderung zu sehen.

„Die Frage des Werdens wie auch des Seins“

Dieses Verständnis kann auch in der kurdischen Geschichte von Unterdrückung gesehen werden. Viel eher als die Abbildung von kurdischem Leben geht es um die Artikulation und Produktion, welche durch die strukturelle Erfahrung von Assimilation und Unterdrückung zu einem Balanceakt wurde. Diskurse darum welche Sprachen verwendet werden oder wer überhaupt kurdische Filme drehen kann wurden zu Fragestellungen mit welchen sich Künstler:innen beschäftigen mussten. Entgegen einer Vereinfachung oder einer romantisierten Darstellung der Unterdrückung wird es zum Prozess, welcher in seiner künstlerischen Produktion kulturelle Identität nicht als gegeben wahrnehmen kann. Die Aushandlung dessen welche Sprache, Kleidung oder auch Orte und Geschichten verwendet werden, führte dazu, dass eine heterogene Menge an Filmen entstand, welche sich der Naturalisierung von Identität entsagt. So auch Filme wie von Kurdwin Ayub, die in einem Interview sagte, dass sie sich zwar mit sich selbst beschäftige aber schnell das Interesse daran verloren hat traurige Migrationsgeschichten zu spielen. Auch hier sind fragmentarische Praktiken und Diskurse zu sehen, welche die kurdische Identität lebendig halten und sie nicht zu Artefakten einer vorkolonialen Kultur erklären. So findet sich auch hier erneut Fanon, wenn er in Schwarze Haut, weiße Masken schreibt:

Ich bin kein Gefangener der Geschichte. Nicht in ihr darf ich nach dem Sinn meines Schicksals suchen […] In einer Welt, in der ich fortschreite, erschaffe ich mich unaufhörlich. Ich bin solidarisch mit dem Sein, insofern ich es überwinde“ (1952).

So ermöglicht die postkoloniale Beschäftigung mit der Kunst eine Aushandlung, welche sich permanent gegen den kolonialen Blick stellt und so tatsächlich widerständig sein und werden kann.

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