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eine Pflanze und die Bücher Und jetzt du von Tupoka Ogette und Vom Versuch nicht weiß zu schreiben von Charlotte Wiedemann. Holzdielen im Hintergrund

Wie Kolonialismus das Denken in Deutschland bis heute prägt

Viele Menschen, die in Deutschland aufwachsen, glauben, Kolonialismus liege weit in der Vergangenheit und hätte keinen Einfluss auf sie. Aber das stimmt nicht. Postkolonialismus spiegelt sich im eurozentrischen Weltbild, in der Berichterstattung, in der Sprache sowie im Konsumverhalten wider.

Ein verzerrte Blick auf die Welt

Der Begriff Eurozentrismus beschreibt die Betrachtungsweise auf das Weltgeschehen, in der Europa und die „westliche Welt“ im Mittelpunkt stehen und den Maßstab vorgeben. Aus dieser Perspektive bewerten Menschen das Geschehen im Globalen Süden und urteilen über Lebensweisen, die sich von ihren unterscheiden.

Eurozentrische Denkweisen zeigen sich im alltäglichen Sprachgebrauch: Die Bezeichnung Entwicklungsländer wird für Länder gebraucht, die aus eurozentrischer Sicht nicht so weit fortschrittlich seien. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Globale Norden der Maßstab für alle Länder dieser Welt darstellt. Wer dem westlichen Ideal nicht entspricht, sei in der Entwicklung zurückgeblieben und primitiv. Im Ausdruck Entwicklungshilfe zeigt sich die Annahme, dass Länder, die dem westlichen Ideal nicht entsprechen, Hilfe benötigen, um sich ihm zu nähern. Gerade weiße Menschen im Globalen Norden verspüren den Drang, ihre Denk- und Lebensweisen zu verbreiten. Dabei inszenieren sie sich als Retter*innen. Dieses Phänomen nennt sich White Saviorism. Die verwendete Sprache kann Machtverhältnisse und strukturelle Gegebenheiten verfestigen. Deshalb ist es so wichtig, den eigenen Sprachgebrauch zu hinterfragen und unter Umständen zu ändern – politisch sensible Alternativen gibt es z.B. auf macht.sprache.

Auch in Medien wird Eurozentrismus sichtbar, denn Journalist*innen, die in Deutschland aufwachsen, sind nicht frei vom eurozentrischen Blick. Sie entscheiden, was als Nachricht relevant ist und wie darüber berichtet wird. Ihre Nachrichtenauswahl beeinflusst wiederum die Wahrnehmung und Meinungsbildung in der Gesellschaft.

Die deutsche Journalistin Charlotte Wiedemann war jahrelang als Auslandsreporterin in verschiedenen Ländern unterwegs. In ihrem Buch Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben schildert sie ihre Erfahrungen als weiße Reporterin und kritisiert journalistische Arbeitsweisen. Sie zeigt auf, wie Journalist*innen aus eurozentrischer Sicht Länder in der Berichterstattung darstellen und wie diese Berichterstattung auch gewollt ist; Korrespondent*innen bleiben nur für einen begrenzten Zeitraum in einem Land, um ihren Blick nicht zu verlieren:

„Fast alle Korrespondenten werden nach einem bestimmten Turnus, also nach einigen Jahren, ausgewechselt – weil sie sich dann zu sehr akklimatisiert haben, zu sehr akkulturiert sind. Going native wird das abschätzig genannt, ein Ausdruck aus der Kolonialzeit: sich den Eingeborenen annähern. Man kennt die Gesellschaft des Gastlandes bereits zu gut, man wundert sich nicht mehr über alles, kurz: man versteht zu viel.“

Vom Versuch nicht weiß zu schreiben (S. 25-26)

Da deutsche Medien meist einseitig über das Weltgeschehen berichten, empfiehlt die Journalistin und Politikwissenschaftlerin Sham Jaff, sich auch über ausländische Medien zu informieren. In ihrem Newsletter „What happend last week” sammelt sie wöchentlich Nachrichten aus aller Welt. Sie schlägt vor, sich immer wieder zu fragen, was in der Berichterstattung fehlt. Insbesondere in Nachrichten über den Globalen Süden und zu Flucht und Migration gibt es häufig Perspektiven, die nicht berücksichtigt werden.

Wer sind „Wir“ und „die anderen“? Rassismus in Deutschland

In Deutschland ist die Ansicht weit verbreitet, dass Menschen mit internationaler Geschichte nicht „deutsch“ seien. Das zeigt sich in der Berichterstattung, wenn bei einem Vorfall der „Migrationshintergrund“ einer Person erwähnt wird, obwohl diese Information für die Nachricht nicht relevant ist. Oder wenn über Muslim*innen gesprochen wird, als seien sie nicht Teil dieser Gesellschaft. Dieser Prozess nennt sich Othering, also wenn eine (gesellschaftlich) dominante Gruppe Menschen ausschließt und zu einer Gruppe von Fremden macht. Das Othering lässt sich auf den Kolonialismus zurückführen. Dadurch schufen Europäer*innen ihre eigene Identität. Sie positionierten sich als überlegen und schrieben denjenigen, die sie kolonisieren wollten, zu, das Gegenteil zu sein. Das rassistisch geprägte System in Deutschland baut auf diesem Machtverhältnis auf.

Jede Person, die in Deutschland aufwächst, erlernt rassistische Denkmuster. In ihrem Buch Und jetzt Du. Rassismuskritisch leben zeigt die Autorin Tupoka Ogette auf, wie sich Rassismus im Alltag äußert und was man dagegen tun kann. Das Buch richtet sich vor allem an weiße Menschen. Denn weiße Menschen sind von Rassismus nicht betroffen und profitieren davon. Tupoka Ogette ist eine der bekanntesten Berater*innen für Antirassismus in Deutschland.

Koloniale Spuren im eigenen Zuhause

Das kapitalistische System Deutschlands baut auf Machtverhältnisse auf, die in der Kolonialzeit geschaffen wurden. Weltweit werden Menschen (und die Umwelt) gewaltvoll ausgebeutet. Unter prekären Arbeitsbedingungen werden im Globalen Süden Produkte hergestellt, um sie günstig im Globalen Norden zu verkaufen.

Zimmerpflanzen beispielsweise sind ein wichtiger Bestandteil vieler Zuhause. Allerdings wissen nur wenige, dass zahlreiche Pflanzen ein Relikt des Kolonialismus sind und meist aus umweltschädlichen und widrigen Arbeits- Bedingungen stammen:

Europäische Kolonialmächte beraubten die von ihnen besetzten Länder und nahmen sich alles, was für sie profitabel oder wertvoll erschien. „Exotische“ Pflanzen waren sehr beliebt beim Adel und wurden zu einem Statussymbol. Das lokale Wissen und die Praktiken vor Ort eigneten sich die Kolonialmächte gewaltvoll an und überschrieben sie. Den Pflanzen gaben sie neue, in der Regel lateinische Namen. Heute stehen tropische Pflanzen wie die Dieffenbachia seguine oder die Strelitzia reginae in vielen Wohnzimmern. Zwar können einzelne nicht die Fortführung kolonialer Strukturen verhindern. Allerdings kann jede Person ihre eigenen Privilegien, Wortwahl und Kaufentscheidungen hinterfragen und sich bewusst machen, aus welcher (Macht-)Position sie agiert. Da weiße Menschen von postkolonialen Strukturen profitieren, sollten gerade sie sich mit ihren Vorurteilen und Privilegien auseinandersetzen.

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