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Postkolonialismus und Humanismuskritik

Unter „Humanismus“ fällt wahlweise eine Epoche, eine intellektuelle Tradition, ein Bildungsideal, eine praktisch orientierte Philosophie oder politische Einstellung, die im Kern von Menschenrechten ausgeht und an humanes Handeln appelliert. Dieses umfangreiche Spektrum teilt sich in einen theoretischen und einen praktischen Aspekt. Wer vom Humanismus spricht, der spricht zum einen davon, dass menschliches Handeln und Urteilen prinzipiell von Gründen geleitet werden kann und alle Menschen in diesem Sinne gleich sind. Zum zweiten umfasst die praktische Seite dieses Spektrums den moralischen Anspruch der Humanität. Wer vom Humanismus spricht, der spricht auch von der Würde des Menschen und dem moralischen Gebot eines humanen Handelns. So sehr uns diese mühsam erworbenen Grundsätze zurecht als zu bewahrende Maßstäbe gelten können, so sehr müssen wir uns, als diesen universell gedachten Grundsätzen verpflichtete Fürsprecher*innen, auch ihre historisch ambivalente und missbräuchliche Rolle eingestehen. Der Grundsatz einer Gleichheit aller Menschen und das Gebot des humanen Handelns klaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit im endlosen Streit um die Frage auseinander, was oder wer eigentlich unter den Begriff des Menschen und in den Bereich des Humanen fällt.

Die europäische Geschichte lehrt uns, dass ausgerechnet jene , die sich selbst als barmherzige Christen oder auch als aufgeklärte Humanisten verstanden haben – i.d.R. Männer –, nicht davor Halt machten, die grausamsten Verbrechen gegen ihre Mitmenschen zu begehen. Um Gerd Stein aus seinem Vorwort der Ethnoliterarischen Lesebücher zu zitieren, bleibt uns heute so wahr wie schmerzlich die Forderung bewahrt, „alte Wunden aufzureißen und die kleine Erkenntnis am Leben zu halten, dass die Europäer kraft ihrer barbarischen Geschichte Monster sind.“ Diese kleine Erkenntnis basiert auf der historischen Tatsache, den Zusammenhang zwischen den vielfältigen Formen humanistischen Denkens und kolonialer Praktiken zu verstehen. Postkoloniale Denker*innen waren es, die aus der kleinen eine große Erkenntnis schufen, indem sie die Humanismuskritik vervollständigten, ohne jedoch den guten und aufrichtigen Kern des Humanismus aufzugeben. Stattdessen muss, wie es etwa Frantz Fanon in Die Verdammten dieser Erde betonte, die Dekolonisierung des Denkens zu einer Befreiung anleiten, die einen neuen Menschen und eine neue Menschlichkeit erschafft. Diese Befreiung ist nur denkbar, wenn die Mechanismen der Verbrechen zwischen Mitmenschen im globalhistorischen Kontext des Kolonialismus verstanden, sowie in der gegenwärtigen Ordnung der Welt aufgedeckt und bekämpft werden. Im Folgenden sollen hierfür einige Konturen nachgezeichnet werden.

Ich beginne mit der Kernthese der post- und dekolonialen Theorie, dass nämlich die europäische Moderne in einem dialektischen Verhältnis zum Nicht-Europäischen entstanden ist. Modernität und Kolonialität sind somit unzertrennlich miteinander verwoben. Daraus folgt die Einsicht, dass die europäische Moderne nicht nur die Geburtsstunde des Humanismus, der Demokratie und Aufklärung ist, sondern auch die des Kolonialismus und der kapitalistischen Ausbeutung. Zudem ist der notwendige Zusammenhang dieser beiden widersprüchlichen Auswüchse der Moderne anzuerkennen, dass nämlich die Forderung nach Gleichheit, Würde und Rationalität im Zeichen universaler Werte nicht nur uneingelöst geblieben ist, sondern strukturell auf dem Ausschluss des „Anderen“ beruht. Historisch erweist sich die Kategorie des „Anderen“ als ein offener Platzhalter, dessen Konstruktion zur Legitimation der Idee des „idealen Menschen“ gebraucht wurde.

Wie der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. Mignolo in The Darker Side of the Renaissance aufgezeigt hat, festigt sich diese Idee im frühen 16. Jahrhundert, in dem sich eine globale Prägung durch europäische Weltanschauungen und Wissensstrukturen durchgesetzt hat, die ausgehend von kolonialen Herrschaftspraktiken etabliert wurden und mithilfe von Institutionen – wie Universitäten, Museen, Parlamenten, Kirchen usw. – bis heute reproduziert werden. Ihren Ursprung nimmt diese Prägung in einer kleinen Bildungselite, nämlich christlichen und schriftkundigen Männern, die das „Wissen der Welt“ kontrollierten und somit den Grundstein dafür legten, dass die studia humanitatis im Sinne der universalen Geistes- und Herzensbildung mit der Idee einer bestimmten Art von Menschen gleichgesetzt wurde. Hierin war bereits die implizite Annahme verschiedener Abstufungen von Menschlichkeit entlang der Konstruktionen von „Rasse“ und „Zivilisiertheit“ angelegt. Indem der europäische Humanismus die universale Idee eines „idealen Menschen“ prägte, schuf er eine wesentliche theoretische Bedingung für rassistische und koloniale Muster der Weltordnung und legte damit zugleich die Maßstäbe fest, wem der Status des Menschlichen an- oder abzuerkennen ist. Fanon hat diesen Prozess der Aberkennung treffsicher in der Analyse des Kolonialismus aufgedeckt. Dieser sei eine systematische Negation des „Anderen“, dem jede Identität und jedes menschliche Attribut abgestritten werde.

Wie auch andere postkoloniale Denker*innen betont haben, hat sich der Humanismus historisch nie aus einem fundamentalen Widerspruch zwischen Universalismus und Partikularismus befreien können. Der Humanist universalisiert, indem er stellvertretend für „den Menschen“ spricht. Jedoch spricht er vor seinem partikularen Hintergrund immer unter der Bedingung bestimmter soziokultureller Prägungen. Er ist also, so die jamaikanische Schriftstellerin und Philosophin Sylvia Wynter, ein ethnoclass man und als solcher in ein Verhältnis machtpolitischer und diskursiver Vormachtstellung verwoben, das den „idealen Menschen“ im historischen Werden Europas schlussendlich mit dem weißen, christlichen, heterosexuellen, nicht behinderten Mann identifiziert hat. Diese Identität bewahrt ihre selbsterhaltenden Grenzen nur durch eine andauernde Anrufung ihrer Antithese: Der „ideale Mensch“ besteht nur im negativen Sinn, d. h. durch Absonderung und Differenz zu einem jeweils „Anderen“, dem seine Menschlichkeit geraubt wird. Der Bereich des „Anderen“ wird somit zum Verdammten, Subalternen, Dehumanisierten und Ausgeschlossenen gemacht, erniedrigt und reduziert. Historisch reicht dieser Bereich von Indigenen, Menschen mit Behinderung, Frauen bis zu allen Personen, die aus dem Raster bestimmter gesellschaftlicher Normen ausgeschlossen wurden. An ihnen haftete jahrhundertelang zumindest implizit der Status des Auch-Mensch, d. h. eines Menschseins, das prekär und je nach Situation und Krise hin zum Nicht-Menschen auflösbar ist. Der Widerspruch eines solchen Mechanismus der anthropologischen Differenzbildung, aus dem sich der Humanismus nie gänzlich befreien konnte, bildet das Fundament einer postkolonialen Humanismuskritik.

Dieser Mechanismus zeigt sich deutlich in der Markierung der Indigenen der Amerikas als „Wilde“, womit die Basis der ideologischen Legitimation europäischen Kolonialismus hergestellt wurde. Der Begriff des „Wilden“ erhielt in kürzester Zeit eine diffamierende Bedeutung und wurde in einen direkten Kontrast zum Europäischen gestellt. In diesem Kontrast liegt die Dynamik eines abgründigen, also in manichäischen Mustern verhafteten Denkens verborgen. Das abgründige Denken kann wiederum durch jenen Mechanismus beschrieben werden, den der italienische Philosoph Giorgio Agamben die anthropologische Maschine nennt. Diese erschafft für jede Zeit Regeln der Differenzbildung, die durch Ausschließung und Einschließung definieren, wie weit die Kategorie des Humanen reicht. Seit der frühen Neuzeit habe sich, so Agamben, ein bis heute nachzuvollziehendes Muster der Definition des „Anderen“ herausgebildet. Die Figuren des „Anderen“ wurden zu jener Zeit vor allem als Sklaven, Indigene, Fremde oder Barbaren bezeichnet und zu Nicht-Menschen erklärt, indem sie als Tiere mit menschlichen Formen galten. Auch heute erblicken wir die Wirkungsweise dieses Mechanismus, wenn z. B. Tiermetaphern zur Diffamierung von Gruppen, die nicht den gängigen Normen entsprechen, oder politischer Gegner*innen eingesetzt werden. Ich plädiere daher, die Spuren der anthropologischen Maschine konsequent im Blick zu behalten und sie gezielt zu kritisieren. Die folgenden drei Fragen können dabei Orientierung bieten. Erstens: Wer beansprucht die Definitionsmacht über die Grenzen des Humanen? Zweitens: Wie haben sich Vorstellungen vom „idealen Menschen“ in den heutigen Wissensstrukturen eingeschrieben? Und drittens: Wo wird eine definierte Differenz des „Anderen“ eingesetzt, um scheinbar naturalisierte Ordnungen des Seins zu festigen?

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