Der Guru im Guavenbaum
Auf der Suche nach Profit
Je schwieriger die Zeiten – und es scheint momentan so, als würden sich diejenigen, die verantwortlich dafür sind, regelmäßig selbst übertreffen –, desto größer das Bedürfnis, alles, was passiert, zu verstehen oder nach Halt zu suchen. Das führt natürlich zu perfiden Situationen. *Kurze Triggerwarnung: In den nächsten drei Absätzen geht es um Körperbilder. Daher bitten wir alle, beim Lesen auf sich zu achten oder diese Absätze zu überspringen.
Zuletzt fiel mir die Flut magenumdrehender Artikel auf, die das Ende der Body-Positivity-Bewegung und die Rückkehr des Heroin Chic verkünden. Vielleicht seht ihr es anders, aber ich bezweifle, dass es jemals eine Zeit gab, in der Frauenkörper unkommentiert geblieben sind. Die Frage, was Frauenkörper dürfen oder nicht, hat unsere Gesellschaft fest im Griff und spiegelt sehr deutlich das sich wandelnde politische Klima wider. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der immer hasserfüllteren, repressiveren Rhetorik und der Erwartung, Frauen sollten nach schlankeren, schwächeren und schmuckstückhafteren Körpern streben.
Ich glaube keine Sekunde daran, dass dieses Phänomen eine Folge dessen ist, dass „wir“ – als wären alle in gleicher Weise betroffen – in Situationen des Kontrollverlusts versuchen, wenigstens unsere Körper zu kontrollieren. Kiran Desais Roman Hullabaloo in the Guava Orchard wurde 1998 veröffentlicht und erschien 2006 als Guru im Guavenbaum in deutscher Übersetzung von Anette Grube. Ende der 1990er-Jahre gab es in Indien viele Reformen und ein enormes Wirtschaftswachstum. Viele Menschen gerieten in dieser Zeit unter die Räder der Moderne. Fast 30 Jahre später befinden wir uns zweifelsohne in einer ähnlichen Lage. Es fühlt sich mehr denn je so an, als würden uns falsche Propheten ersticken.
Natürlich habe ich keine Lösungsvorschläge. (Wer sich fragt, warum ich immer so gut gelaunt bin: Ich versuche die Welt zu verstehen, indem ich Kuchen backe und andere zwinge, ihn zu essen, oder indem ich mir mal wieder ein paar Folgen von Come dine with me reinziehe – wir alle brauchen schließlich unsere Trash-TV-Momente). Anfang dieses Jahres habe ich Der Guru im Guavenbaum gelesen – vielleicht könnt ihr euch denken, welche politischen Ereignisse mich dazu motiviert haben, zu einem Buch zu greifen, in dem ein Mann viele begeisterte Anhänger*innen hinter sich versammelt, die glauben, er würde ihnen Antworten liefern –, denn wie wir wissen, können Bücher helfen, die Welt zu kontextualisieren. Ich weiß nicht, wann sich die aktuelle Bedeutung des Begriffs „unhinged“ verbreitet hat, aber er beschreibt das Buch ziemlich gut. Alle Figuren darin sind ein bisschen durchgeknallt und das ist hervorragend! Es liest sich wie eine umgekehrte Version von Alice im Wunderland. Der Protagonist versucht wie besessen dem bedrückenden Wahnsinn der Welt zu entkommen, bis er und seine Familie lernen, wie sie ihr Umfeld zu ihrem eigenen Vorteil manipulieren können.
Die Geschichte handelt von der Familie Chawla aus der Stadt Shahkot. Diesen abgelegenen Ort erreicht selbst der Monsun erst als letztes. Doch an dem Tag, an dem Kulfi Chawla ihren Sohn zur Welt bringt, kommt nicht nur der Monsun, sondern auch eine Hilfslieferung des Roten Kreuzes, die in ihrem Hof landet und gegen ihren alten Jamun-Baum prallt. Die Chawlas nennen ihren Sohn Sampath („Glück“), „denn obwohl er vielleicht nicht besonders drall oder hellhäutig war, war er ein Junge und damit zweifelslos ein Triumph“. Zwanzig Jahre später jedoch versinkt der Sohn des Glücks in Misserfolgen. Er arbeitet im Hinterzimmer der Post und seine einzige Freude ist das Lesen der privaten Korrespondenz der Bewohner*innen von Shahkot. Leider kommt ihm dieses Vergnügen abhanden, nachdem er sich bei der Hochzeit der Tochter seines Chefs betrunken in einem Brunnen nackt ausgezogen hat. Ohne dass er es ahnt, beginnt am nächsten Tag beginnt Sampaths neue Karriere, als er mit dem Bus zu einem verlassenen Guavenhain fährt, um der Schikane seiner Familie zu entkommen. Als er auf einen riesigen Guavenbaum klettert, erlebt Sampath vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie friedliche Ruhe.
Seine Familie macht sich zunächst große Sorgen, was die Leute wohl sagen werden. Das ändert sich jedoch, als Sampath beginnt, private Informationen weiterzugeben, die er durch seine Schnüffelei bei der Post in Erfahrung gebracht hat. Die Klatschmäuler sind sofort davon überzeugt, dass Sampath eine Art heiliges Wesen ist, und Herr Chawla macht sich daran, aus dem neu gewonnenen Einfluss seines Sohnes Kapital zu schlagen. Es fällt mir schwer, nicht die ganze Geschichte zu erzählen, daher sage ich nur noch, dass sich eine Gruppe von Affen in Sampaths Baum niederlässt, bevor sie alkoholabhängig werden und Shahkot auf der Suche nach ihrem nächsten Rausch terrorisieren, und belasse es dabei.
Niemand hier ist besonders „normal“, aber für mich ist Kulfi (genau wie das indische Eis) die interessanteste Figur. Nur sie versteht Sampaths Wunsch zu fliehen, da sie selbst die meiste Zeit ihres Tages in einer gastronomischen Traumwelt verbringt und über die verschiedenen Zutaten nachdenkt, mit denen sie gerne kochen würde. Diese reichen von vernünftig (Granatäpfel) über fragwürdig (Pfauen – obwohl diese Vögel im Westen vor dem Truthahn ursprünglich als Festtagsvögel galten) bis hin zu geradezu gefährlich (irgendwelche willkürlich gepflückten Pflanzen, die giftig sein könnten).
Während Sampath seine Tage damit verbringt, mit seinen Anhänger*innen zu sprechen, durchstreift Kulfi die Baumschule der Universität und sammelt Zutaten, mit denen sie ihren Sohn, den falschen Propheten, füttern kann. Ihre Kreationen teilt sie nie mit seinen Anhänger*innen, obwohl sie es sind, die für ihren Lebensunterhalt sorgen. Ihre Träumereien über das, was die Erde zu bieten hat, schwinden schnell und sie nimmt alles Essbare mit, was sie finden kann, bis sie beginnt, ihre ganze Energie darauf zu richten, einen Affen zu fangen und zu kochen.
Eine Zeit lang galt meine Sympathie Sampath. Ruhe und Nähe zur Natur im Gegensatz zum ewigen Erklimmen der Karriereleiter werden schnell zu Luxusgütern. Im Jahr 2025 fühlt sich diese Geschichte noch krasser an, da die obersten 1 % mehr Vermögen besitzen als 95 % der Menschheit. Gleichzeitig explodiert das Internet mit Beiträgen von Menschen, die dir lautstark weißmachen wollen, du seist ein*e Versager*in, weil du nicht genug Sport machst/reist/Kleidung trägst/Protein isst oder genauso schnell reich wirst wie sie.
An dieser Stelle erlaube ich mir kurz, meine Seele zu offenbaren: Meine Expressversion des Guavenbaums besteht darin, mitten am Arbeitstag einen Timer zu stellen und mit angezogenen Knien vor der Badewanne auf dem Boden zu sitzen. Der Wanne gegenüber steht ein kleiner Baum in einem Topf und der Blick in seine grünen Blätter ist unglaublich beruhigend. Im Gegensatz zu Sampath habe ich keine Anhänger*innen, sondern nur meine Katzen, die mich mit ausdrucksstarken, ernsten Blicken mustern. Sie haben sicher Mitgefühl, aber sie erinnern mich auch daran, dass ich den Lebensstil beibehalten muss, an den sie gewöhnt sind.
Das Problem mit Sampath ist, dass er sich ein wenig zu sehr an den Klängen seiner eigenen Weisheiten erfreut. Wenn seine Anhänger*innen ihm Fragen über das Leben stellen, sind seine Antworten oft verwirrend und so vage wie Horoskope in Zeitschriften. Dennoch, so fehlgeleitet oder leichtgläubig wir seine Anhänger*innen auch finden mögen, suchen auch sie nach Frieden und Lösungen. Anstatt sich in die Zahnräder der neu reformierten Maschine zu stürzen, verbringen sie ihre Tage versammelt um seinen Guavenbaum. Mir bleibt die Frage: Ist das Verhalten der Chawlas verwerflich oder halten sie sich einfach nur an die Regeln dieser neuen, modernen Welt?
Ich mochte Der Guru im Guavenbaum unter anderem deshalb so sehr, weil es so bizarr und doch so nachvollziehbar ist. Shahkot und seine Bewohner*innen sind alle ein bisschen „unhinged“, wie man so schön sagt, aber als Individuen sind die Chawlas ein besonderer Beweis dafür, dass die Welt nicht streng in Führer*innen und Anhänger*innen unterteilt werden kann. Wenn das wahr wäre, würde das bedeuten, dass unangenehm viele von uns wie diese alkoholkranken Affen wäre, dass wir jeden terrorisieren würden, der uns im Weg steht oder etwas besitzt, das wir haben wollen.