Rosarita

book cover of rosarita by anita desai

Rosarita

Kunst, Gewalt und Geister in Rosarita

Es passiert immer wieder. Ich mache mir selbst Vorwürfe, wenn ich nicht die Bücher lese, die mir helfen, das Chaos auf dieser Welt zu verstehen. Ich sollte mich schuldig fühlen, nach einem Buch zu greifen, das mich für zwanzig Minuten durchatmen lässt. Wie kann irgendetwas besser werden, wenn ich nicht informiert bin? Wenn eine Geschichte mich sofort vereinnahmt oder mich wunderschöne Prosa beeindruckt, dann muss ich doch das Falsche lesen.

Aber wie soll ich irgendetwas verstehen, wenn tausend andere Dinge passieren, die mich wütend machen, frustrieren oder mir das Gefühl von Hilflosigkeit geben, während ich Luft hole? Glücklicherweise wende ich mich immer, wenn ich mal wieder dabei bin, mir das Lesen (und damit auch das Schreiben) zu verderben, hin zu Autor*innen wie Anita Desai – sie als beflissen zu bezeichnen wäre untertrieben –, die mich daran erinnern, dass die Kraft der Literatur nicht darin liegt, bestimmte Kontexte direkt zu übertragen und Leser*innen vorzugeben, wie sie dazu stehen sollen.

Rosarita, Desais neuester Roman, ist die Geschichte von Bonita, einer jungen Inderin aus Neu-Delhi, die für einen Spanischkurs nach San Miguel in Mexiko reist. Eines Tages wird sie im Jardín von einer Frau, von Vicky, konfrontiert, die später die Fremde und dann zum Trickster wird. Die Fremde behauptet, Bonitas Mutter, Sunita, gekannt zu haben. Nur nennt die Fremde sie Rosarita. Rosarita, so die Fremde, war einst eine talentierte Künstlerin, die aus Indien kam, um von den großen Maler*innen Mexikos zu lernen.

Die Mutter, die Bonita kannte, trat in die Fußstapfen der Generationen vor ihr und kümmerte sich wie sie um den Haushalt und die Bedürfnisse der unerträglichen Geschäftsmänner, die in ihrem engen sozialen Umfeld die wichtigsten Rollen einnahmen. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter, die stolz darauf war, einen Haushalt zu führen, über den sich ihr Mann nicht beschweren konnte, wuchs Bonita damit auf, tagsüber eine pflichtbewusste Ehefrau und Mutter zu sehen und in den dunkleren, einsamen Stunden eine Frau, die sich unter der Last eines Traumas krümmte.

Doch „eine Skizze in wässrig-blassen Pastellfarben, die zu Hause über deinem Bett an der Wand hing, von einer Frau, die auf einer Parkbank sitzt – und ja, es könnte eine hier in San Miguel gewesen sein -“ reißt Bonita aus ihren Bedenken und schickt sie auf eine Reise durch Mexiko; eine Suche nach Geistern und nach einem anderen Leben, das mittlerweile vielleicht nur noch in den versiegelten Kisten existiert, zwischen die sich ihre Mutter nachts gern vergrub.

Weiblichkeit, Erinnerung und Trauma sowie die Frage, was es bedeutet, seinen Platz in der Welt zu finden, sind einige der Themen dieser kurzen, schönen Geschichte. Bonita, entschlossen, dem Schicksal der Frauen ihrer Familie zu entkommen, vertieft sich in das Sprachenlernen, um Freiheit zu finden. Desai, Tochter einer deutschen Mutter und eines bengalischen Vaters, wuchs mehrsprachig auf und weiß, dass Sprache gleichzeitig Befreiung und Fessel sein kann. Besonders den Anfang des Buches konnte ich unglaublich gut nachfühlen: die Erkenntnis eines Kindes, dass die eigenen Eltern auch nur Menschen sind, die zufällig Kinder haben. Dass sie schon als andere Personen existierten, bevor die Elternschaft sie definierte.

Obwohl Rosarita von zwei spezifischen historischen Momenten handelt, spiegeln einige Bilder ganz andere wider. Bestimmte Parallelen haben Bonita nach Mexiko geführt. In Indien hatte sie einen Vortrag über die Verbindungen zwischen den mexikanischen Künstler*innen der Revolution und den indischen Künstler*innen der Freiheitsbewegung während der Zeit der indischen Teilung gehört. Ein Bild von Zügen, die in Mexiko eingesetzt wurden, weckte in Bonita Erinnerungen an die Züge zwischen Indien und Pakistan, in denen Geflüchtete – blutüberströmte Körper – transportiert wurden. Sie fragt sich, ob solche Züge auch zur Erinnerung ihrer Mutter gehören. In vielen Familien ist die Teilung ein tiefsitzendes Trauma.

Habe ich schon erwähnt, dass Desais Schreibstil auch verdammt schön ist? Er ist sehr volkstümlich und manchmal eher wie ein Traum, unterbrochen von schmerzhaften Momentaufnahmen aus der Realität. Eine meiner Lieblingsszenen spielt in einem strahlenden Herrenhaus aus der Kolonialzeit, in dem die Geister die Macht der Trickster-Figur entlarven, die einst in ihren bunten Kleidern und ihrem Schmuck so lebendig und tonangebend war.

Ich glaube nicht, dass ich dem endlosen Kreislauf aus Nachrichten, Analysen, Interviews, Meinungsstücken und Podcasts so bald entkommen werde. Aber selbst als Person, die viel liest, muss ich mich an die Fähigkeit der Literatur erinnern, uns woandershin mitzunehmen. Sich in einer Geschichte zu verlieren, ist keine Schande, sondern trägt zu unserer Heilung und unserem Wohlbefinden bei. Ich kann also empfehlen, sich ein paar gemütliche, ungestörte Stunden Zeit für Rosarita zu nehmen und durch Bonitas Augen die Tauben im Jardín zu beobachten, die sich wie alte Herren gegenseitig zunicken, oder die Krokodile im Sumpf, die unter ihren schweren Augenlidern vom Rand der Mangrovenwälder hervorblicken, und sich auf Bonitas Angst und Vorfreude auf der Suche nach den Geistern ihrer Mutter einzulassen.

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