„Menschen werden je nach Ort unterschiedlich gelesen“: Ein Gespräch mit Raphaëlle Red über das Road-Novel-Prinzip
Raphaëlle Red lebt momentan als Autorin in Berlin, schreibt auf Französisch, Deutsch und Englisch und arbeitet zudem an einer Promotion zur Literatur der afrikanischen Diaspora. Wir durften mit ihr über ihren französischsprachigen Debütroman Adikou sprechen, über die Reise der Protagonistin und die des Romans von einem (Sprach-)Kontext in den nächsten. Die deutsche Übersetzung des Romans von Patricia Klobusiczky ist vor wenigen Tagen im Rowohlt Verlag erschienen.
In deinem Roman Adikou geht es um eine junge Frau auf Reisen. Sie ist in Frankreich aufgewachsen, ihr Vater, der die meiste Zeit abwesend war, kommt aus Togo. Sie studiert eine Weile in den USA und verbringt dann einige Zeit in Togo mit Abstechern nach Ghana und Benin. Sie wirkt die ganze Zeit getrieben, auf der Suche nach etwas, nach sich selbst, nach ihrer Familiengeschichte, ihrer Zugehörigkeit. So würde ich das Buch beschreiben. Was würdest du selbst sagen, worum es geht?
Ich finde deine Beschreibung schon sehr passend. Ich könnte noch hinzufügen, dass es keine lineare Reise ist, in der klar ist, wohin es geht. In meinem Roman handelt es sich eher um eine Spirale. Die Protagonistin nähert sich bestenfalls dem Herzen der Sache an, hat aber oft das Gefühl, wieder an der gleichen Stelle zu landen. Spiralen haben es ja an sich, dass es sich anfühlt, als würde man sich im Kreis drehen.
Auf der Metaebene geht es um bestimmte Diskurse über Herkunft und Identität, die oft verflacht und vereinfacht geführt werden. Das wollte ich infrage stellen und vielleicht sogar einen Entwurf wagen, wie diese Narrative in der Literatur verkompliziert werden können.
Eine Frage, die sich auch durch den Roman durchzieht, ist die der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit – also der Gegenwärtigkeit der Kolonialgeschichte oder der kolonialen Kontinuitäten und der Traumata der Versklavung. Für mich war dieses Buch der Versuch, eine bestimmte Sensibilität und Subjektivität aufzuzeigen, von der ich weiß, dass sie sehr viele Menschen in der afrikanischen Diaspora so erleben und wahrnehmen. In der breiteren Gesellschaft fehlt diese Sensibilität oder diese Wahrnehmung oft. Ich wollte zeigen, wie stark die Geschichte den Alltag prägt, was sie mit Beziehungen macht, mit Liebe, mit politischem Engagement, dem Gefühl von Sicherheit und mit dem Reisen. Für mich ist dieses Buch also auch eine Einladung – besonders an weiße Menschen –, sich emotional und sensibel auf diese Themen einzulassen.
Wer oder was hat dich inspiriert?
Darauf gibt es mehrere Antworten. Die eine darf ich eigentlich nicht mehr sagen, zumindest wenn es nach meinem Freundeskreis geht. Aber als Teenager habe ich Jack Kerouacs On the Road gelesen und war total fasziniert. Seitdem wollte ich eine Road-Novel schreiben. Aber mit zunehmender Politisierung und zunehmendem Wissen habe ich angefangen, das Buch und den Autor stark zu hinterfragen, zu kritisieren und darüber hinaus zu denken. Was passiert eigentlich mit diesem männlich und weiß geprägten Genre, wenn plötzlich andere Figuren mit anderen Körpern im Fokus stehen? Was passiert dann mit den Assoziationen von Freiheit? Das heißt Kerouac war eine Inspiration, an der ich mich abarbeiten musste.
Dann war da noch Léonora Miano. Sie war die erste zeitgenössische Schwarze Autorin, die ich auf Französisch gelesen habe, bei der ich dachte: Krass, das kann man machen! Man kann sich solche Freiheiten im Schreiben nehmen, man kann Geschichten erzählen und Bücher schreiben, in denen nur Schwarze Figuren auftauchen und die trotzdem in Paris spielen. Das fand ich beeindruckend.
Beim Schreiben habe ich außerdem Marguerite Duras gelesen, weil sie stilistisch inspirierend finde und viele interessante Sachen mit direkter Rede macht. In meinem Roman streiten sich ja später die Protagonistin und die Erzählerin über die Erzählhoheit und das war technisch nicht so einfach umzusetzen. Dafür war es gut, Duras zu lesen.
Du hast jetzt schon über deine eigene Politisierung gesprochen und die Protagonistin erwähnt. Kommen wir als nächstes zu ihr: Ich hatte den Eindruck, dass sie erst als Studentin in den USA eine gewisse Politisierung durchmacht, sich fragt, ob sie Schwarz ist, ob das eine treffende Selbstbezeichnung ist, die sie für sich beanspruchen kann. Warum musste sie dafür in die USA reisen?
Ich würde die Frage ein bisschen präzisieren und sagen, ihre Politisierung in Hinsicht auf Race oder Rassismus passiert erst in den USA. Sie ist schon vorher für Klassenprivilegien sensibilisiert und das hat weniger mit dem US-amerikanischen Kontext zu tun.
Aber sie begreift erst in den USA, dass sie Schwarz gelesen wird und damit kommt die Politisierung als Schwarze Person, zu der sie davor gar keinen Zugang gehabt hat. Das ist ein übliches Phänomen, das ich von mir und von Menschen in meinem Umfeld kenne. Viele Schwarze Europäer*innen brauchen entweder physisch oder zumindest in Text, Film und Musik den Bogen über die USA – und damit meine ich spezifisch über Afroamerikaner*innen – um zu einem Selbstverständnis von sich als Schwarz zu gelangen, um sich dann irgendwann als Schwarze Deutsche oder Schwarze in Frankreich zu verstehen. Das ist also recht üblich. Aber es stellt sich auch im nächsten Schritt die Frage, ob wir uns damit zufriedengeben wollen. Und ich würde sagen: Nein. Deswegen sind auch Begriffe wie Afropäisch und Afrodeutsch so wichtig. Bestenfalls sorgen sie dafür, dass immer weniger Menschen in die USA schauen und sich erst mal in eine andere Sprache und einen anderen Kontext übersetzen müssen, um überhaupt zu sich und zu dieser Politisierung zu finden. Das ist ein Ziel dieser Begrifflichkeiten.
Und ist das mit ein Grund dafür, dass Adikou als nächstes nach Togo reist?
Ja, teilweise. Also mit diesem Road-Novel-Prinzip lässt sich extrem gut zeigen, dass Menschen je nach Ort unterschiedlich gelesen werden. Deshalb habe ich meine Figur auf die Reise geschickt. Adikou wächst damit auf, dass alle sie beruhigen wollen und ihr sagen, sie sei gar nicht Schwarz – weil Schwarzsein in diesem Kontext angeblich was Schlimmes ist. In den USA gelten andere Regeln, dort ist sie Schwarz. Und dann war es mir wichtig, sie daraufhin nach Togo zu schicken, weil sie an diesem Ort plötzlich auch eine Weiße ist. In dieser Reiseerzählung zeigt sich, dass es nicht um so etwas wie Hautfarbe oder irgendetwas Naturgegebenes geht.
Aber sie sucht in Togo auch nach ihrem Vater, nach ihrer Geschichte und sie versucht, etwas über sich zu verstehen.
Adikou findet auf eine gewisse Weise an allen Orten Anknüpfungspunkte, auch wenn sie nicht immer angenehm für sie sind. In den USA hat sie einen weißen Freund, eine Art freundschaftliche Beziehung zu einer wohnungslosen Person, sie geht in die Uni und übernachtet bei gastfreundlichen Leuten, usw. In Togo trifft sie sich unter anderem immer wieder mit einem Mann, dem Professor, der sie unterstützt und der ihre Familie zu kennen scheint. Aber ihr bleibt immer dieses Gefühl, nicht vollständig dazuzugehören. Und in vielen Situationen spürt sie Angst. Warum ist das so?
Angst ist bisher erstaunlich wenig im Kontext des Buches besprochen worden. Oft ging es eher Wut und Scham.
Wie du sagst, ist Adikou nicht allein. Aber sie ist einsam, weil ihre Beziehungen ihr vor Augen führen, dass sie nicht ganz dazugehört. Sie versteht Zugehörigkeit als Identität im Sinne von identisch sein. Und dass sie nicht ankommen kann, hat letztendlich viel damit zu tun, welche Diskurse über Zugehörigkeit ihr überhaupt zur Verfügung stehen.
Mit der Angst ist es ähnlich ambivalent wie mit der Einsamkeit und den Anknüpfungspunkten: Sie hat viel Angst, aber sie ist auch krass mutig. Genau deshalb mag ich die Figur so gerne.
Du hast den Roman auf Französisch geschrieben und er wurde von Patricia Klobusiczky ins Deutsche übersetzt. Aber in der deutschen Ausgabe habe ich gelesen, dass diese Übersetzung in enger Zusammenarbeit mit dir passiert ist. Wie sah das aus? Über welche Dinge hast du besonders viel mit der Übersetzerin gesprochen?
Eine Zeit lang stand die Frage im Raum, ob ich den Roman selbst übersetzen wollen würde. Aber ich hatte zu dem Zeitpunkt schon fünf Jahre an dem Buch gesessen und konnte mir einfach nicht vorstellen, es noch mal zu schreiben – und wusste nicht, ob ich mir so eine Übersetzung zutrauen würde.
Dass Patricia Klobusiczky als etablierte und erfahrene Autorin sich darauf eingelassen hat, mit mir, der Autorin, zusammenzuarbeiten, war keine Selbstverständlichkeit.
Wir waren viel im Austausch, schon nach den ersten paar Seiten. Dann haben wir oft mehrere Kapitel am stück besprochen. Ich konnte Dinge im Text anmerken und Vorschläge machen, dann haben wir telefoniert und Patricia ist noch mal in den Text reingegangen.
Ich war sehr beeindruckt davon, wie Patricia den Rhythmus aus dem Originaltext in der Übersetzung beibehalten hat, obwohl die beiden Sprachen gerade rhythmisch so unterschiedlich funktionieren. Und es war toll, dass ich an einigen Stellen anregen konnte, Adikou ein bisschen frecher oder unhöflicher wirken zu lassen.
Außerdem ging es um Begriffe wie „métisse“. Patricia hat das unterschiedlich gelöst, was ich immer schlüssig fand. Einmal hat sie zum Beispiel „halb und halb“ als Übersetzung genommen. Keiner der gewählten Begriffe ist besonders angenehm oder gewaltfrei. Aber der Grad der Gewalt war verschieden und das zeigt auch die Übersetzung.