BeHinderung und postkoloniale Literatur: Tsitsi Dangarembgas Roman Aufbrechen
Darstellungen von BeHinderung ziehen sich durch die Literatur jeder Epoche, erklärt Clare Barker, die Englische Literatur mit Schwerpunkt auf Medical Humanities an der Universität von Leeds lehrt. Gleichzeitig stellt Barker fest, dass diese Darstellungen häufig nicht wahrgenommen oder diskutiert werden. Dabei scheint BeHinderung ein besonders nützliches erzählerisches Mittel für Schriftsteller:innen zu sein, die koloniale Zusammenhänge und ihre Folgen thematisieren. Gleichzeitig erlaubt ihnen dieses Mittel, die soziale und potenziell koloniale Konstruktion von BeHinderung infrage zu stellen. Ich denke an Hagos in Sulaiman Addonias Roman Schweigen ist meine Muttersprache, dessen Spracheinschränkung als Symbol für das Ungesagte in Bezug auf politische Machtspiele und ihre Auswirkungen auf den Alltag von Menschen verstanden werden kann. Ich denke an Simon aus Keri Hulmes Roman Unter dem Tagmond, der aufgrund von Misshandlungen viele Narben davongetragen hat und von Joe, seinem Pflegevater, so lange geschlagen wird, bis er zumindest kurzfristig sein Gehör verliert, und wie er so für Kritik am neuseeländischen Fürsorge- und Gesundheitssystem steht. Mir fällt Nyasha aus Tsitsi Dangarembgas Roman Aufbrechen ein, deren Essstörung im kolonialen Rhodesien laut ihrer Mutter nur als problematischer Einfluss Englands gedeutet werden kann, wobei Nyasha sich eigentlich gegen patriarchale Strukturen auflehnt. Es sind Geschichten, die vom Körper eines Charakters ausgehen, um „Schäden“, Ungleichheit, Macht und Machtmissbrauch in der postkolonialen Welt zu thematisieren.
In Bezug auf Menschen stellen solche literarischen Darstellungen Fragen nach dem Menschsein, nach Norm und „Abweichung“ oder „Besonderssein“. In Aufbrechen (ins Deutsche übersetzt von Ilija Trojanow) präsentiert Dangarembga eine koloniale Welt, die stark patriarchal geprägt ist. Nyasha ist ein junges, schlaues Mädchen, das viel liest und alles hinterfragt – auch die Autorität ihres Vaters, der eine leitende Position in einer Schule von weißen Missionaren hat. Ihr Vater bestraft sie und verbietet ihr Widerworte zu geben, was eigentlich bedeutet, dass ihr untersagt wird, selbst zu denken und eine Meinung zu haben. Nyasha soll sich an die Normen innerhalb des Kolonialstaates anpassen, die eine Mischung aus europäisch-christlichen Werten und lokal praktiziertem Patriarchat sind. Als Tochter ist sie ihrem Vater ausgeliefert und in ihrer Machtlosigkeit, richtet sie sich gegen ihren eigenen Körper. Ihre Familie denkt, sie sei verrückt geworden. Als Leserin bin ich schockiert und ärgere mich über die Ungerechtigkeit des Systems. Das „Problem“ ist nicht Nyasha, die eine psychische Krankheit entwickelt: Das Problem ist die Art und Weise, wie eine Normalität konstruiert wird, die sie zum Problem macht.
Neben Nyasha erlebt eine weitere Figur eine seelische Erkrankung, die Mutter ihrer Cousine Tambudzai. Die Mutter lebt in bitterer Armut, ihr Mann versäuft das wenige Geld, das zur Verfügung steht, eins ihrer Kinder stirbt in der Jugend. Diese Umstände führen zu einer dauerhaften Beeinträchtigung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe. Es geht so weit, dass Lucia, die Schwester der Mutter, einschreiten und sie zwingen muss, sich zu waschen, zu essen und überhaupt noch minimal am Leben teilzunehmen. Barker erklärt, dass in postkolonialer Literatur oft ein kulturelles Verständnis von BeHinderung präsentiert wird, was mir besonders deshalb plausibel erscheint, weil so bestimmte Kontexte kritisch beleuchtet werden können. Im Mittelpunkt eines kulturellen Verständnisses von BeHinderung stehen die Erfahrungen aller Mitglieder einer Gesellschaft. BeHinderung bezieht sich dann darauf, was eigentlich Normalität bedeutet und wie sie konstruiert wurde. Dafür ist ein historischer Blick wertvoll, der hilft zu verstehen, was zu Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozessen geführt hat und wie Barrieren entstanden sind.
Darstellungen von BeHinderung und Krankheit in postkolonialer Literatur zeigen wie eng materielle Körper mit postkolonialer Politik verbunden sind. So steht BeHinderung in Dangarembgas Roman für das, was die gesamte Nation und ihre Institutionen infiziert hat. Der Zustand der Menschen – in dem Fall im kolonialen Rhodesien – ist eine direkte Folge kolonialer Unterdrückung. In Aufbrechen werden besonders Gewalt, Armut und Unterernährung thematisiert, die physische und psychische Folgen für Menschen haben. Zusätzlich spielen Institutionen, Verhaltensweisen und Weltbilder, die aus den kolonialen Beziehungen entstanden sind, eine Rolle. Die unruhigen Zustände individueller Körper und nationaler Institutionen können über BeHinderung verstanden werden: Der koloniale Kontext behindert. Der englische Originaltitel des Buches lautet Nervous Conditions – etwa unruhige Zustände – und ich finde er passt deutlich besser zu dem Buch als der Titel der deutschen Übersetzung.
Clare Barker betont die Wichtigkeit, bei der Lektüre postkolonialer Literatur ein Bewusstsein für BeHinderung zu haben, einfach deshalb, weil BeHinderung in so vielen postkolonialen Texten präsent ist. Es werden Realitäten benannt, vor denen sich viele (zumindest in Deutschland oder Europa) scheuen, was schon daran erkennbar ist, dass einige Menschen befürchten, allein mit dem Wort „Behinderung“ zu beleidigen oder zu stigmatisieren.
Die Dichterin und Künstlerin Khairani Barokka betont, dass sich mit dem Kolonialismus Normen und Vorstellungen von BeHinderung in kolonisierten Gebieten verschoben haben. Postkoloniale Literatur hat also zusätzlich das Potenzial mithilfe der Darstellung beHinderter Charaktere, die Prozesse, die zur Etablierung von Normen dienen, zu hinterfragen, und zwar in unterschiedlichsten geographischen und historischen Kontexten. Auf diese Weise kann die Gewalt enttarnt werden, die ein enges, unflexibles Verständnis von Normalität – egal in welcher Variation – beinhaltet.