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Intersektionalität als Praxis: Interview mit Emilia Roig

Emilia Roig, die Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ), spricht mit poco. lit. darüber, was es bedeutet, in Europa und insbesondere in Deutschland intersektionelle Arbeit zu leisten.

Was ist Intersektionalität? Könntest du uns die Definition geben, mit der CIJ arbeitet?

Die Definition von Intersektionalität, mit der wir arbeiten, ist sehr einfach. Wir sagen, dass es bei Intersektionalität darum geht, Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung zu bekämpfen, Minderheiten innerhalb von Minderheiten zu schützen und Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten zu bekämpfen. Das bedeutet, dass wir Ungleichheiten innerhalb von Kategorien betrachten, die normalerweise als monolithisch und homogen angesehen werden. Zum Beispiel betrachten wir Ungleichheiten zwischen Frauen, wir betrachten Ungleichheiten innerhalb der Gruppe von Migrant*innen, innerhalb der Gruppe von People of Color, innerhalb der Gruppe von Menschen mit Behinderungen, innerhalb der LGBTQI-Community. Wir schauen auf Diskriminierungsmuster innerhalb dieser Kategorien. Das bedeutet, dass wir eine mehrdimensionale Perspektive auf soziale Ungleichheiten und Diskriminierung haben.

Was macht CIJ?

CIJ ist eine Lobby Organisation, die das Konzept der Intersektionalität zurückerobern und wieder politisieren will. Ich halte das für wichtig, weil Intersektionalität für die Zwecke von Institutionen verwendet wurde, die den Status quo reproduzieren – oder zumindest dafür sorgen, dass er so bleibt, wie er ist. Dadurch wird der subversive Charakter von Intersektionalität und race im europäischen Kontext aufgehoben. CIJ strebt danach, dass die politische Bedeutung von Intersektionalität diese Institutionen irgendwann durchdringt.

Unsere Arbeit teilt sich in drei Bereiche: Lobby Arbeit, Forschung und Weiterbildung. Wir arbeiten auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Sektoren. Wir sprechen auch als Referent*innen in etablierten, hochrangigen Institutionen wie der Europäischen Kommission oder dem Europäischen Parlament.

Ähnlich wie Diversity wird Intersektionalität häufig kritisiert, zu modisch und damit bedeutungslos geworden zu sein. Was würdest du dieser Kritik entgegenhalten? Warum ist Intersektionalität ein nützliches Konzept und wie lässt es sich praktisch anwenden?

Es gibt Kritik von Akademiker*innen, die sagen, dass Intersektionalität zwar sehr nützlich ist, dass sie aber herausfinden wollen, was Intersektionalität darüber hinaus ermöglichen könnte. Die Kritik aus dem Mainstream wirft Intersektionalität meistens vor zu spalten oder dass sie im wirklichen Leben nicht anwendbar ist; dass sie Identitätspolitik verstärkt. Das stimmt teilweise: Intersektionalität verstärkt Identitätspolitik, aber das ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Identitätspolitik ist ein wichtiger Schritt, wenn es darum geht Unterdrückungssystemen zu zerschlagen. Hoffen wir, dass wir irgendwann keine Identitätspolitik mehr brauchen – dass wir Identität tatsächlich überwinden. Das Problem ist, dass sich viele der Kritiker*innen aus dem Mainstream nicht wirklich mit Intersektionalität auseinandersetzen. Sie kritisieren Intersektionalität anhand von Annahmen und Projektionen und nicht das, was Intersektionalität tatsächlich ist.

Intersektionalität kann auf viele verschiedene Arten genutzt werden, und genau darin liegt die Stärke dieses Konzepts. Intersektionalität ist ein politisches Instrument, ein Werkzeug zur Rechtsanalyse und eine soziologische Perspektive. Sie ist ein Mittel zur Selbstermächtigung; Intersektionalität ist so viele Dinge gleichzeitig. Sie kann auch auf verschiedenen Ebenen eingesetzt werden, für die Gesetzgebung und in der Politikgestaltung. Communities können Intersektionalität für sich nutzen; sie dient sozialen Bewegungen, schafft Koalitionen und Solidarität. Auf individueller Ebene kann Intersektionalität ein besseres Verständnis der eigenen Position ermöglichen – und Empowerment. Einige Leute sagen, dass Intersektionalität in der Theorie eine schöne Idee sei, in der Praxis aber nicht funktioniere. Doch im Gegenteil: Intersektionalität ist eine Praxis.

Verändert sich die Definition von Intersektionalität mit dem Kontext? Warum ist es im deutschen Kontext besonders wertvoll, über Intersektionalität nachzudenken und Intersektionalität zu praktizieren? Begegnen dir bei der Arbeit unterschiedliche Herausforderungen, je nach dem in welchem Kontext du dich bewegst – also in Deutschland oder anderswo?

Ja, auf jeden Fall. Im deutschen Kontext ist das Wort „Rasse“ unsagbar. Deshalb tendiere ich dazu, stattdessen „race“ zu sagen. Mir begegnet weniger Widerstand, als ich erwartet hätte. Jedes Mal, wenn ich es sage, erkläre ich, warum es ein wichtiger Begriff ist, warum er benutzt werden muss und warum auch in Deutschland weiterhin die Kategorie race mitgedacht werden muss. So lange es Rassismus gibt, müssen wir über race sprechen. In Deutschland herrscht die Illusion, dass wir uns in einer post-racial Gesellschaft befinden würden, was es schwierig macht über soziale Ungerechtigkeiten aus einer race-Perspektive zu sprechen, obwohl immer wieder Stellvertreterkonzepte wie Ethnizität, Migration, Religion oder Kultur verwendet werden. Diese Stellvertreterkonzepte sind stark rassialisiert im deutschen Kontext, in Europa generell. Auf diese Weise werden rassialisierte Minoritäten gespalten. Es entsteht die Illusion, dass jede Gruppe von verschiedenen Dynamiken betroffen ist, obwohl es in Wirklichkeit dieselbe ist: Es geht immer um weiße Vorherrschaft. In Deutschland wurde Intersektionalität ohne race stark gemacht und das ist sehr problematisch. Race ist zentral in der Entstehungsgeschichte von Intersektionalität. Ohne race gäbe es keine Intersektionalität.

Um direkt an diesen Punkt anzuschließen, denkst du, dass es in den letzten Jahren eine Veränderung gab in der Art und Weise, wie bestimmte Terminologien benutzt wurden? Uns ist aufgefallen, dass kürzlich eine ganze Reihe von Büchern auf Deutsch dazu veröffentlicht wurden, viele davon von Schwarzen Frauen.

Ja, definitiv, der Wandel findet statt, das ist die gute Nachricht. Ich neige dazu, den Widerstand – AFD, Trump und all die konservativen rechten Stimmen und Bewegungen – lediglich als Körnchen Sand im Getriebe der Geschichte zu sehen. Die sehen, was passiert, und denken: Das kann nicht sein, wir müssen alles dafür tun, jeglichen Wandel zu verhindern. Aber der Wandel findet statt. Der Widerstand ist also nicht mehr als ein Ausdruck dessen, dass sich wirklich Dinge ändern. Sonst hätten die nicht so viel Angst. Es gäbe nichts, dem Widerstand geleistet werden müsste.

In Deutschland geschieht das auch. Es ist fast herzerwärmend (aber vielleicht ist das ein zu großzügiges Wort) zu sehen, dass selbst etablierte weiße Menschen bereit für Veränderungen sind. Ich bin zum Beispiel gebeten worden, in diesem Jahr in der Jury des Deutschen Sachbuchpreises mitzuwirken. Ich bin natürlich die einzige Person of Color, aber ich bin dabei. Und sie wollten, dass ich dabei bin. Ich habe mich nicht beworben. Sie haben mich gefragt. Es ist also ein Wandel im Gange. Ein weiteres Beispiel ist, dass ich in der Auswahlkommission der EU-Förderprogramme für Vielfalt war.

Auch wenn die Motivation dahinter oft eher eine Alibipolitik (tokenism) ist: Sie wissen, dass eine rein weiße Jury im Jahr 2020 nicht mehr glaubwürdig ist. Vielleicht ist das der Grund, warum sie mich eingeladen haben, aber ich lasse mich nicht als token benutzen. Ich habe Dinge zu sagen und Interessen zu vertreten. Ich sorge dafür, dass Fragen von Unterdrückung, Rassismus, Macht und Privilegien Teil des Auswahlprozesses werden.

Wie kann deine Arbeit – die Arbeit von CIJ – unterstützt werden? Was würdest du dir von Menschen erhoffen, die sich gerne einbringen wollen? Welche Rolle spielen in deinen Augen strukturelle Privilegien, wenn es um Unterstützung geht?

Räume oder Plattformen zu schaffen, um über die Arbeit von CIJ sprechen zu können, ist extrem hilfreich. Es hilft uns, wenn Leute uns weiterempfehlen, über uns reden, uns auf sozialen Medien folgen. Ich glaube, dass ist generell die größte Unterstützung, die wir bisher bekommen haben: Menschen, die hinter uns stehen und uns an neue Orte bringen, die sicherstellen, dass wir Zugang haben.

Emilia Roig ist die Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ). Sie promovierte in Politikwissenschaften und hat zwei Masterabschlüsse: Einen in Public Policy und einen MBA in Jura. Vor der Gründung von CIJ arbeitete Roig zu Menschenrechtsthemen, hauptsächlich im Rahmen sogenannter entwicklungspolitischer Institutionen, z.B. für die UN und die GIZ, in Kambodscha und Ost-Afrika. 2021 veröffentlichte sie ihr Buch Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung im Aufbau Verlag.

Eine längere Version des Interviews auf Englisch gibt es im Sammelband Minor on the move: Doing cosmopolitanisms von Edition Assemblage.

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