“Es ist die Sprache der Kolonialisierer” – Ein Interview mit jarral Boyd über Indigenität und Sprache
jarral Boyd ist auf Turtle Island aufgewachsen und ist das Kind indigener und Schwarzer Eltern. Seit they in Berlin lebt, arbeite jarral in Schulen, hat kommunale Strukturen für Vielfalt und Integration geschaffen, Workshops als Allyship Trainer*in auf Konferenzen und Festivals gegeben und Integrationsinitiativen im Sport geleitet. They ist Sprachwissenschaftler*in und unterrichtet indigene Heilverfahren für Communities.
Kannst du dich und deine Arbeit als Linguist*in und Pädagog*in vorstellen? Warum hast du diesen Weg gewählt?
Ich habe Linguistik studiert, weil mich Sprache schon immer fasziniert hat; angefangen hat es als Kind mit Englisch, meiner Erstsprache. In der achten Klasse habe ich an einem Buchstabierwettbewerb teilgenommen und gewonnen. Der Preis war ein Wörterbuch. Es war das Wundervollste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.
Ich ging mit vielen Immigrantenkindern erster Generation aus verschiedenen Ländern Asiens zur Schule. Der Stadtteil, aus dem ich komme, liegt in einer sehr segregierten Stadt in den USA und hat viele spanische Muttersprachler*innen. Ich wuchs inmitten von Fremdsprachen auf und sah Menschen, die zusätzliche Kurse belegen mussten, weil Englisch nicht ihre Erstsprache war. Die ganze Idee der Kommunikation umgab mich also schon von Beginn an. Ich fand es immer sehr faszinierend, wie das Gehirn funktioniert und wie wir als Kinder oder von Geburt an Sprachen lernen. In Bezug auf die Arbeit: Ich zog vor 18 Jahren nach Berlin. Ich wollte selbst beobachten, wie Kinder Sprache lernen und wurde daher Englischlehrerin und Erzieherin.
2018 fing ich an, Roller Derby zu spielen. Es ist ein sehr weißer Sport, vor allem, weil die Ausrüstung teuer ist und weil es keine Repräsentation, keine Reichweite gibt etc. Ich habe versucht, innerhalb meiner Liga Diversität in Bezug auf Rasse und Ethnie zu fördern und wurde gebeten, einen Workshop durchzuführen. Ich machte den Workshop und sah: „Oh, es braucht solche Workshops und ich bin sehr gut darin, also werde ich das jetzt machen.“
Inwiefern unterscheidet sich deine Arbeit in Bezug auf den Kontext in Deutschland und anderen Orten?
Ich habe einige Workshops in den USA durchgeführt, aber meistens waren sie in Berlin. In der Regel unterscheidet sich, wie sehr sich die Leute einbringen. Es gibt einen großen Unterschied, ob ich mit einem deutschen oder internationalen Unternehmen zusammenarbeite. Bei internationalen Unternehmen gibt es ein höheres Level an Grundverständnis für Mikroaggressionen und Grundlegendes zu Sprache rund um solche Sachen. Wenn ich mit einem rein deutschen Unternehmen zusammenarbeite, ist das anders, nicht nur das Level an Verständnis, sondern auch der extreme Pushback von Konzepten oder Ideen, die für sie neu sind. Generell sind viele Begriffe nicht ins Deutsche übersetzbar oder es sind exakt die gleichen Wörter. Die USA neigen dazu, die Vorreiter in dieser Arbeit zu sein, wohl wegen ihrer diversen Demographie. Die Verwendung englischer Begriffe erlaubt es Deutschen, sich von den Konzepten zu distanzieren. Sie mögen vielleicht glauben: „Oh, das sind Dinge, die hier nicht passieren. Das ist ein Problem der USA.“
In Deutschland wird sogar das Wort Rasse vermieden und stattdessen Race verwendet, mit der Begründung, dass es etwas anderes bedeute als im Englischen. Nein, es bedeutet genau dasselbe. Aufgrund der Geschichte habt ihr euch entschieden, das Wort nicht mehr zu benutzen und das erlaubt euch, dieses Gedankenspiel durchzuführen und zu sagen: „Oh, keine Rasse, kein Rassismus.“ Voilà. Es gibt viel Distanzierung und Leugnung, die intrinsisch für die deutsche Kultur sind und sie basieren auf Sprache.
Inwiefern geht es in deiner Arbeit um Sprache? Sprichst du über gewisse Begriffe in deinen Workshops?
Ja, immer. Jeder Workshop und jedes Training bestehen zu einem großen Teil aus Terminologie. Das ist notwendig, um sicherzustellen, dass alle auf dem gleichen Stand sind und um zu erfahren, was das Grundverständnis der Einzelnen von bestimmten Konzepten ist. Ich neige dazu, Kimberlé Crenshaw zu zitieren; in einer ihrer Erklärungen, warum und wie sie den Begriff der Intersektionalität eingeführt hat, sagt sie: „Wenn du keinen Namen für ein Problem hast, siehst du das Problem nicht und wenn du das Problem nicht siehst, kannst du es nicht lösen.“
Gibt es bestimmte linguistische Strategien, die du in deinen Workshops vermittelst?
Meine Arbeit ist immer interaktiv, einfach, weil nur durchs Zuhören nicht das Maximum von dem, was internalisiert wird, herausgeholt werden kann. Es braucht Selbstreflexion und eine Verbindung dazu. Daher würde ich sagen, dass es eine linguistische Strategie ist, die Leute dazu zu bringen, über sich zu sprechen und sie bestimmte Begriffe aufgrund ihres eigenen Verständnisses definieren zu lassen. Allgemein ist Lernen durch Gespräche meine wichtigste Strategie, gemeinsam mit Fragen stellen. Ich empfehle, das zu tun, statt sich auf Fakten und Statistiken und so zu fokussieren. Sich mit einer Person zu unterhalten und zu versuchen, nicht autoritär zu sprechen. Uns wurde beigebracht, Aussagen zu treffen, statt Fragen zu stellen, was Gespräche abbricht und das Gegenüber defensiv werden lässt.
Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, den Namen zu verwenden, der eine Gruppe für ihre eigene Identität oder ihre soziale Positionierung wählt. Kannst du mir und unseren Leser*innen erklären, warum das wichtig ist?
Wenn es Personen außerhalb dieser Gruppe überlassen wird, wo bleibt da die Verantwortung? Das Verständnis? Wie kannst du mir sagen, wer ich bin? Wie kannst du mir sagen, wie ich gerne genannt werden würde? Es entsteht eine Autorität, wo es keine Autorität gibt. Es ist eine hierarchische Mentalität der weißen Vorherrschaft, dass es irgendwen gibt, der mir als Teil der betroffenen Gruppe etwas vorschreiben kann; egal, ob es sich um Behindertenfeindlichkeit, Gender-Identität oder auch Klassismus geht. Nur Menschen, die diese Erfahrung machen, können ihr einen Namen geben.
Kannst du mir etwas mehr über den Begriff Indigenous erzählen? Ich habe gehört, dass er als „politisch korrekter“ Begriff verwendet wird, aber es gibt auch Stimmen, die ihn kritisieren, weil er lediglich einen früheren, eindeutig rassistischen Begriff ersetze. Was ist deine Meinung dazu?
Ich bin etwas abgelenkt durch den Begriff „politisch korrekt“, weil ich ihn hasse, aber vielleicht kommen wir später noch dazu.
Als ich ein Kind war, war meine Großmutter indigen, aber sie wurde gestohlen, entführt und wurde in einer Residential School von weißen Menschen aufgezogen und später „adoptiert“. Da meine Mutter nicht viel von ihrer Indigenous Culture mitbekommen hat, stellte sie sicher, dass ich es tat. Einmal im Monat wurde ich aus dem regulären Schulunterricht genommen. Ich und andere indigene Kinder lernten über unsere Kultur, wie die gustoweh, unser „Kopfschmuck“ aussieht, und wie unsere traditionellen Kleider, Essen und alles andere ist. Dies umfasste auch die Sprache und wie wir uns selbst nennen.
Es gibt keine einzige Community, die eine geeinte Meinung oder Denkweise zu irgendwas hat. Es gibt viele, die immer noch Indianverwenden, und das ist komplett normal und ergibt für sie total Sinn und das ist auch in Ordnung. Aber viele Menschen sagen allgemein: „Ja, Indian ist in Ordnung, indigen ist in Ordnung. Es ist ohnehin nicht unsere Sprache, warum sollte mich das interessieren? Es ist die Sprache der Kolonialisierer.“ Ihr benutzt also irgendwelche Wörter, von denen ihr glaubt, sie verstehen zu müssen, aber unsere Wörter sind für uns sowieso komplett anders.
Für mich ist Indigenität an und für sich ein sehr wichtiger Begriff, weil er sich nicht nur auf ein politisches Gebiet beschränkt. Er ist nicht beschränkt auf eine Nation oder ein Volk. Er ist nicht beschränkt auf die Zugehörigkeit zu einer Rasse. Menschen aus Afrika sind indigen. Alle Menschen, in bestimmter Art und Weise, sind indigen in Bezug auf ihr Herkunftsland. Und genau das wurde uns durch die kolonialistische Mentalität gestohlen, was so viel Leid verursacht hat. Diese Loslösung von der Erde, unseren Beziehungen, was wir Dinge und weiße Menschen Umwelt und Natur nennen würden. Das Wort Natur existiert nur, um eine Trennung zwischen uns und ihr zu ziehen, aber wir sind Natur. Daher beschreibt indigen für mich nicht eine bestimmte Art von Menschen, sondern ein ganzheitliches Konzept und eine ganzheitliche Lebensweise.
Würdest du sagen, das gilt auch für den deutschen Begriff indigen? Oder denkst du, dass es einen Unterschied zwischen den Sprachen gibt?
Ja, ich habe bis vor ein paar Jahren, als klar wurde, dass „Indianer“ nicht akzeptabel ist, nie gehört, dass der Begriff verwendet wurde. Ich ging einfach davon aus, dass er bevorzugt werden wird. Ich glaube, die Etymologie von indigen liegt im Lateinischen; ich nahm an, dass er aus diesem Einfluss hervorging.
Du hast bereits erwähnt, dass es große Unterschiede im Diskurs und Sprachgebrauch zwischen Deutschland und den USA gibt, wenn es um Begriffe wie Indigenität oder Rasse geht. Was sind deiner Ansicht nach die wichtigsten Unterschiede?
Ich denke, ein großer Faktor ist, wie bereits angesprochen, diese Distanzierung. Ich denke, in der deutschen Kultur ist die Einstellung verbreitet, dass es gar keine indigenen Menschen mehr gibt. Das ist ein Ding der Vergangenheit, und es ist ihnen ohnehin egal. Es gibt viel Arroganz in der deutschen Kultur.
Es gibt zum Beispiel die Geschichte von Karl May und Winnetou und diese bizarre Fantasie und Idealisierung haut mich um. Es ist im Grunde genommen Cosplay. Ich glaube, einige der Menschen, die an den Anlässen, die in Deutschland stattfinden, involviert sind, tatsächlich indigener Herkunft sind. Ich würde sie natürlich nie dafür verurteilen, dass sie versuchen, in dieser kapitalistischen Gesellschaft auf die bestmögliche Art und Weise Geld verdienen. Aber die Tatsache, dass es auch schon nur eine Nachfrage danach gibt, ist meiner Meinung nach stark mit der deutschen Identität verknüpft, bei der es darum geht, nicht deutsch sein zu wollen und sich vom eigenen Deutschsein und deutschen Sachen distanzieren zu wollen. Dadurch hielten sich Menschen an Karl May und Winnetou fest und tauchten in ihre Fantasiewelt ein.
Ich lebe seit 18 Jahren in diesem Land. Ich habe Leute kennengelernt, Deutsche, die, wenn sie herausfinden, dass ich Indigenous bin, mir keine Fragen stellen und überhaupt nicht daran interessiert zu sein scheinen, was das eigentlich bedeutet. Stattdessen gibt es diese kindliche Begeisterung, die eine Fantasie in ihrem Kopf erzeugt, aber es gibt kein Interesse daran, zu wissen, wie meine Nation heißt. Es sind einfach „Indianer“. Es sind alle gleich.
Der große Unterschied besteht für mich darin, dass diese Distanz ermöglicht, dieses breite, bunte Bild zu malen, das nichts mit der Realität zu tun hat. Und wo kein Interesse an der Realität besteht, gibt es auch eine Arroganz.
Du hast erwähnt, dass du den Begriff politische Korrektheit nicht magst. Kannst du uns sagen, warum?
Das ist von meiner Erfahrung als US-Staatsbürgerin geprägt. Es war ein Begriff, der direkt nach seiner Einführung zu einer Gegenreaktion wurde, um all das abzulehnen, was eigentlich einfach Aufforderungen sind, anständige Menschen zu sein. Aufforderungen, respektvoll gegenüber den Selbstbezeichnungen und Sprachen anderer Menschen zu sein, kein Leid zuzufügen. Das alles wurde in den Begriff politische Korrektheit gepackt, der sofort verspottet wurde.
Wie würden wir uns in einer idealen Welt mit Indigenität und Sprache befassen?
In einer idealen Welt würde zum Beispiel das Land nicht anerkannt, sondern zurückgegeben werden. Vermutlich startete es mit tollen Intentionen, als eine Person sagte, dass sie die Nation anerkennt, die ursprünglich auf diesem Land gelebt hat. Ich werde nicht von Besitz sprechen, denn Land gehört niemandem. Es gibt etwas, das in unserem Gehirn passiert, auch sprachlich, das uns selbstgefällig werden lässt. Nach einer Weile ist Dinge zu sagen genauso gut, wie Dinge zu tun. Irgendwann fingen Menschen an, Landanerkennung mit einer Handlung zu verwechseln.
Außerdem bricht mir das Aussterben indigener Sprachen das Herz. Den indigenen Nationen Ressourcen zu geben, mit denen sie ihre Erstsprachen erblühen lassen, sie lehren und sicherstellen könnten, dass Menschen sie auch in Zukunft noch sprechen werden und sie nicht aufhören werden, zu existieren – das wäre essentiell.
Die Sache, die Menschen in Bezug auf Genozid nicht anerkennen, ist, dass es nicht nur um Körper geht. Es geht um das Auslöschen eines Volkes von der Erde, von der Geschichte, Das umfasst Kultur, die Kunst, Wissen und Sprache ist.
Gibt es noch etwas, das unsere Leser*innen wissen sollten und das du bisher nicht erwähnt hast?
Etwas, das mich seit dem 7. Oktober letzten Jahres immer wieder beschäftigt, ist das Rosinenpicken der Kämpfe, denen Beachtung geschenkt wird. An jedem Tag, solange wie die Menschen, die aktuell auf diesem Planeten leben, existieren, gibt es einen ständigen Genozid und ständig Kriege, die Schwarze und Braune Menschen betreffen. Wir neigen dazu, uns nur auf bestimmte von ihnen zu fokussieren und auch nur für eine gewisse Zeit, insbesondere heutzutage im Zeitalter von Smartphones und Social Media. Dies hat bestimmt unsere Gehirnchemie verändert und die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt beschäftigen. Unsere Kapazität, um uns mit Dingen zu beschäftigen, sie zu verarbeiten und darüber nachdenken zu können, ist sicherlich auch begrenzt. Aber immer, wenn wir uns auf die Kämpfe eines Volkes in einem bestimmten Teil der Welt fokussieren, gibt es einen großen und ähnlichen Kampf direkt nebenan. Aber diese Menschen sind Schwarz oder haben eine dunklere Hautfarbe und erhalten deshalb keine Aufmerksamkeit. Zum Beispiel scheint es vielen Menschen nicht bewusst zu sein, dass es Schwarze Palästinenser*innen gibt. Wir sehen sie nie. Und auch, was aktuell im Kongo und im Sudan passiert. Die meisten Menschen haben das nicht auf ihrem Social-Media-Feed.
Wozu ich Menschen gerne zum Nachdenken anregen möchte: Wählt nicht aus und ordnet menschliches Leiden nicht in eine Rangfolge ein. Du musst dich nicht voll und ganz jeder einzelnen Sache verschreiben. Das ist unmöglich. Aber schau dich vielleicht das nächste Mal, wenn du etwas repostet oder dich mit etwas beschäftigt oder mit Menschen in einem bestimmten Teil der Welt mitfühlst, etwas um, ob nicht irgendwo anders etwas ähnliches passiert und beschäftige dich auch damit. Spende dein Geld auch für eine Sache für Schwarze oder Braune Menschen. Versuche einfach, etwas herauszuzoomen und sei dir bewusst, dass Colorism einen großen Beitrag dazu leistet, uns gegeneinander aufzuhetzen. Und in Bezug auf Allyship ist es schwer, Vertrauen aufzubauen. Es ist schwer, Vertrauen aufzubauen, wenn du dich nicht einmal gesehen oder nicht ernst genommen fühlst, weil du gerade keine Kapazitäten übrig hast, um menschliches Leiden anzuerkennen.