
Den Geist der Unzugehörigkeit wecken
Schauplatz ist ein weiß gestrichener Friedhofsverwaltungsbau aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Friedhof liegt mitten in Berlin, wo der alte sowjetische Sektor auf den französischen traf. Auf der Website der Historischen Kommission der Stadt wird sachlich darüber informiert, dass sich „unter einer lang gestreckten Rasenfläche mit einem mittleren Efeuhügel ein Massengrab mit Kriegsopfern aus dem Jahre 1945“ befindet. In den 1960er Jahren wurde ein 50 Meter breiter Abschnitt des nördlichen Teils des Friedhofs zur Sicherung der Berliner Mauer genutzt. Dieser Teil der Anlage wurde als „Todesstreifen“ bezeichnet. Die Ironie, dass sich der Todesstreifen auf einem enteigneten Friedhof befindet, ist den Berliner*innen wahrscheinlich nicht entgangen. Heute ist der Todesstreifen Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer, einem Touristenmagneten. Seit 2022 ist das Gebäude ein Kulturcafé, das Lisbeth. All das gehört zum Alltag in Berlin, einer Stadt, die verzweifelt versucht, ihre Vergangenheit selektiv vergessen zu machen und eine würdige Gegenwart zu schaffen. Aber wie nutzen die Berliner*innen diese Räume, wenn sie die Möglichkeit dazu haben? Wie leben sie umgeben von Geistern?
September 2024 fand das Barrio (Bairro) Berlin Festival mit einem einwöchigen Programm mit überwiegend lateinamerikanischen Schriftsteller*innen und Künstler*innen statt. Das Barrio ist multikulturell und mehrsprachig. Das Festival zeigte die dekolonialen Ansätze in der Kunst der Beteiligten, selbstreflexiv und nicht kategorisierbar. Dazu nutzte es unterschiedliche Formen – Publikationen, Partys, Poesieworkshops. Im Rahmen des Festivals veranstalten Hopscotch Reading Room und poco.lit. gemeinsam einen Abend im erwähnten Friedhofscafé. Mehrere Dutzend Menschen drängen sich zu für die Performances der tamilischen Dichter*in Avrina Prabala-Joslin und der guatemaltekischen Künstlerin Maya Saravia in das Gebäude. Beide leben seit mehreren Jahren in Berlin und, als Personen von der „Peripherie“, haben ein komplexes Verhältnis zum Leben im kolonialen „Zentrum“. Im Mittelpunkt des Abends stand das Thema Zugehörigkeit. Im Deutschen steht dieser Begriff für ein Gefühl, für eine Art Willkommensein. Aber das Wort impliziert auch, dass ebendieses Willkommensein nicht erzwungen werden kann. Das englische Belonging ist ähnlich ambivalent: Als Verb bezieht es die Person, die es verwendet, mit ein. Ein offenes Grab zum Einnisten. Bei ihren Performances gingen sowohl Saravia als auch Prabala-Joslin auf die Problematik der Zugehörigkeit ein.
Saravia wählte eine abstrakte Herangehensweise und zeigte einen kurzen Film mit Clips von Menschen, die zu Reggaeton tanzten, wie die Polizei in Guatemala einen Protest niederschlägt und von Geistertänzen Indigener Gruppen den USA. Der Titel des Films „Theory of a Ghost“ (Theorie eines Geistes) und Saravias Ausführungen suggerierten, dass Körper und Bewegung mögliche Umgangsweisen mit staatlicher Unterdrückung bieten. Sie hob hervor, dass die Tänzer*innen, die sie für ihr Video filmte, auch Teil der Proteste waren. Saravia sieht im Geistertanz einen Schlüssel: „Auf diese Weise versuchten sie einen Durchgang zu öffnen und ihre Vorfahren und Nachkommen aufzurufen. Sie vergegenwärtigten das, was nicht anwesend, aber auch nicht abwesend war.“ Dieses Spannungsfeld zwischen Anwesenheit und Abwesenheit scheint der Kern der Frage nach Zugehörigkeit zu sein, die im Lichte von Saravias Film zunächst vielversprechend erscheint, nur um dann in staatlichen Erzählungen unterzugehen. Saravia sagt: „Zugehörigkeit? Ich gehöre nur zu meiner Wut“.
Prabala-Joslin setzte sich ebenfalls mit den negativen Aspekten der Zugehörigkeit auseinander: „In letzter Zeit habe ich über die Nicht-Zugehörigkeit nachgedacht. Ich bin in der Illusion der Zugehörigkeit gefangen, und jedes Mal, wenn ich mich einer Identifikation nähere, löst sie sich auf. Und obwohl ich kurz davorstehe, vereinnahmt zu werden, drehe ich mich um und laufe weg. Immer wenn ich mir wünschte, dazuzugehören, und mich darum bemühte, tappte ich in eine Falle“.
Prabala-Joslin verhandelte das Thema über die Sprache und präsentierte ein dreisprachiges Gedicht, das hauptsächlich auf Englisch, aber auch auf Tamil und Deutsch verfasst war. They wies darauf hin, dass „diese spezifische Sprachkombination häufig von Eelam-Tamil*innen gesprochen wird, die auf der Flucht vor dem Völkermord der sri-lankischen Regierung, der von der indischen Regierung unterstützt wurde, in deutschsprachigen Ländern in Europa Zuflucht suchen mussten.“
Im Berliner Kontext kann die Verwendung des Tamilischen für die meisten Lesenden oder Zuhörenden als eine entfremdende und verfremdende Geste angesehen werden. Die Undurchsichtigkeit des Lesens von Tamil, einer nicht-kolonialen Sprache, die einer eigenständigen brahmanischen Schrift geschrieben wird und die Prabala-Joslin so prominent einsetzt, wird etwas abgemildert, wenn sie laut vorgelesen wird. Dennoch ist es besonders in Deutschland auffällig, wo von Einwandernden, die „integriert“ werden wollen, erwartet wird, dass sie sich bemühen, Deutsch zu lernen oder zumindest Englisch zu sprechen, um sich verständlich zu machen. Prabala-Joslins Gebrauch der tamilischen Sprache ist eine Geste der Selbstbestimmung und der Unterwanderung des sartrischen mauvaise foi (Unaufrichtigkeit), aufgezwungen durch die englische Sprache des britischen Kolonialismus und das Deutsch der christlichen Missionare. Letztere waren besonders in Prabala-Joslins Region Kanyakumari aktiv, die immer noch eine Hochburg des Christentums ist. Prabala-Joslin wies vor der Lesung auf diese komplexe Geschichte hin und bemerkte die eigene ambivalente Nähe zum Deutschen: „In dieser Region, die oft als der tiefe oder dunkle Süden bezeichnet wird, leben viele protestantischen Christ*innen. In der Regel handelt es sich um Indigene Personen oder Menschen aus den sogenannten unberührbaren Kasten, die [von deutschen Missionarsfamilen] mit dem falschen Versprechen der Befreiung vom Kastensystem und der Armut massenhaft bekehrt wurden.“
Prabala-Joslin wuchs in einem christlichen Haushalt auf und die Lieder, die they am meisten liebt, verfasste ein deutscher Missionar (unter tamilischem Pseudonym). Dieses Wissen ruft widersprüchliche Gefühle in Prabala-Joslin hervor: „Ich gehöre nicht so zu meiner Muttersprache, wie ich dachte. Oder vielleicht verbirgt sich eine Muttersprache unter all den sozio-politischen Vorstellungen eines weißen deutschen Kolonialisten?“
Wie Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts (1943) darlegte und Frantz Fanon etwa zehn Jahre später in Schwarze Haut, weiße Masken (1942) in den (post-)kolonialen Kontext einbrachte, können wir Identität als etwas verstehen, das uns von anderen aufgezwungen wird, in der Regel von den Mächtigen. Fanon schreibt: „Das Minderwertigkeitsgefühl der Kolonisierten korreliert mit dem Überlegenheitsgefühl der Europäer. Wir sollten den Mut haben, offen zu sagen: Der Rassist erschafft seine Unterlegenen“. Das betrifft den innersten Kern von Identität und Zugehörigkeit, mit all seinen Schibboleths und Dynamiken der Authentizität.
Es ist schwer, diesen Bann zu brechen, unsere eigene Trägheit und Unaufrichtigkeit zu überwinden, die Selbsttäuschung, mit der wir an der Falle der Zugehörigkeit mitarbeiten. Prabala-Joslins Anwesenheit, oder genauer gesagt, die Anwesenheit der tamilischen Sprache im Rahmen des überwiegend lateinamerikanischen und spanischsprachigen Barrio Berlin führte zur Dekonstruktion einer festen Identität für das Festival als Ganzes, verkomplizierte es und baute „Süd-Süd“-Netzwerke der Dekolonialität auf. Indem Prabala-Joslin die eigene Muttersprache in der Performance infrage stellte, wurde der Bann der Wohlfühl-Vielfalt gebrochen, mit dem diese Mehrsprachigkeit hätte einhergehen können. Die selbstbestimmte Verwendung des Deutschen kehrte den kolonialen Blick auf diese Sprache mitten im Berliner Kontext um. „Früher habe ich diese Gedichte mit einem Gefühl der Zugehörigkeit vorgetragen, heute möchte ich dies mit einem Gefühl der Un-Zugehörigkeit tun,“ sagte Prabala-Joslin. Und genau wie im Fall von Saravias Film „Theory of a Ghost“ hätte es keinen besseren Ort als einen Friedhof für diese Performance geben können. Diese Dynamiken sollten schließlich nicht begraben bleiben, sondern exhumiert und aufgearbeitet werden.