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Portrait von Anna Islentyva

Über die Darstellung von Migration in der britischen Presse: Ein Gespräch mit Anna Islentyeva

Anna Islentyeva ist Sprachwissenschaftlerin für englische Linguistik. Sie lehrt und forscht derzeit an der Universität Innsbruck. Im Rahmen unseres Projekts macht.sprache. haben wir mit Anna über ihre Forschung zum Migrationsdiskurs in der gegenwärtigen britischen Presse gesprochen. Sie erklärt, wie sich der Brexit auf den Diskurs über europäische Migration ausgewirkt hat und wie sich die sprachlichen Muster konservativer und linksliberaler Medien unterscheiden, aber auch ähneln.

Kannst du uns ein bisschen über dich und deinen Hintergrund erzählen? Wie bist du zu deiner Forschung über den Migrationsdiskurs in der britischen Presse gekommen?

Ich bin 2009 von St. Petersburg nach Berlin gezogen, um an der Freien Universität Berlin Englisch und Deutsch zu studieren. Fünf Jahre später begann ich mit meiner Doktorarbeit, die ich dann im April 2018 erfolgreich verteidigt habe. Zwei Jahre später veröffentlichte Routledge diese Arbeit als Buch mit dem Titel A Corpus-Based Analysis of Ideological Bias: Migration in the British Press. Generell ist Migration im weitesten Sinne eines der zentralsten Themen in der europäischen und britischen Presse. Es erregt die Aufmerksamkeit der Regierung, der Medien und der generellen Öffentlichkeit. Außerdem ist es für mich ein persönliches Thema. Ich betrachte mich immer noch als Einwanderin, auch wenn ich schon seit 13 Jahren in Europa lebe. Derzeit arbeite ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für englische Linguistik an der Universität Innsbruck. Die Lehre ist ein sehr wichtiger Teil meines akademischen Lebens. Ich schätze den Austausch mit den Studierenden sehr. Derzeit arbeite ich gemeinsam mit meinen Studierenden und einigen ehemaligen Studierenden an mehreren Projekten.

Du befasst dich mit der sprachlichen Darstellung von Migration vor und nach dem Brexit-Referendum. Welche Unterschiede hast du zwischen den beiden Zeiträumen festgestellt?

Meine Analyse beinhaltete vier Dimensionen. Wir haben den Unterschied zwischen der links- und der rechtsgerichteten Presse untersucht. Dann haben wir die Unterschiede zwischen der Zeit vor dem Brexit und der Zeit nach dem Brexit untersucht. In der Zeit vor dem Referendum verwendeten die rechtsgerichteten Medien zwei Muster: Migration als Bedrohung und Migration als Belastung. Ein Beispiel: Migration als Bedrohung meint Darstellungen von Einwander*innen, die nach Großbritannien kommen und sich dann als Kriminelle oder Terrorist*innen entpuppen. Migration als Belastung meint Darstellungen von Einwander*innen, die entweder unsere Arbeitsplätze stehlen oder Sozialleistungen beantragen und die wir versorgen müssen, was sie zu einer Belastung für das britische Sozialsystem macht. Nach dem Referendum hält die konservative Presse immer noch an diesem Muster fest, aber jetzt klassifizieren sie die Einwander*innen in gut und schlecht. Wir haben qualifizierte Einwander*innen oder Fachleute, z.B. Ärzt*innen, Akademiker*innen und internationale Studierende oder ungelernte Einwander*innen.

In der linken Presse gibt es keine sehr auffälligen Muster. Es gibt einige, aber sie sind nicht so beständig und nicht so stark wie die Muster, die in der rechten Presse zu finden sind. Die linksliberale Presse versucht, einen Gegendiskurs zu führen, in dem sie die Regierung und die rechtsorientierte Presse in die Verantwortung nimmt. Aber das Problem ist, wenn die verwendeten Muster kritisiert werden, werden sie auch reproduziert. So tauchen leider die Muster – Migration als Bedrohung und als Belastung – in der linken Presse immer noch sehr häufig auf, weil sie sie mit ihrer Kritik reproduzieren.

Eine Veränderung in der Zeit nach dem Referendum war, dass versucht wurde, das Wort migrants zu vermeiden. Der Schwerpunkt lag auf der europäischen Migration, wegen des Brexits, weshalb sie europäische Einwander*innen entweder als EU citizens oder EU nationals, oder positiv als EU workers,manchmal sogar als neighbours und friends beschreiben. Der Schwerpunkt lag dabei auf den positiven wirtschaftlichen Auswirkungen von Migration. Einwander*innen zahlen Steuern, nehmen weniger Sozialleistungen in Anspruch, sie produzieren und erwirtschaften Gewinne. Ein und dieselbe Gruppe von Menschen wird unterschiedlich beschrieben. In der konservativen Presse sehen wir die wirtschaftliche Belastung, in der linksliberalen Presse bringen sie Profit. Das nennt man Ideologie. Und das ist der Grund für die ideologische Voreingenommenheit, auf die ich im Titel meines Buches hingewiesen habe.

Du betonst in deiner Arbeit, dass die einzelnen Begriffe – refugee, asylum seekers, immigrantsund migrants – inhaltlich miteinander verbunden sind, aber dennoch unterschiedliche Bedeutungen haben. Entspricht die Verwendung der Wörter ihrer tatsächlichen Bedeutung in den Zeitungsartikeln?

Wortbedeutungen ändern sich und Diskurse ändern sich. Ich möchte ein konkretes Beispiel für das Wort migrants geben. Es wurde häufig in zwei Kontexten identifiziert: Zum einen in Bezug auf die Wirtschaft und zum anderen in Bezug auf Geflüchtete. Aber eigentlich sind das nicht die Einwander*innen, die sich freiwillig entschieden haben, in ein anderes Land zu kommen, dort zu leben und hoffentlich mehr Geld zu verdienen. Sie haben sich für den Umzug entschieden, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. Sie sind Geflüchtete. Dies war auch der Fall, als man sie nicht als Geflüchtete oder Asylsuchende bezeichnete, sondern einfach als eingewanderte Personen. Die rechtsgerichtete Presse hatte bereits vorab diese negativen Assoziationen mit Migration, dass sie nur wegen der Sozialleistungen kämen und kriminell seien. Das war eine der wichtigsten Erkenntnisse und sie kann als problematisch und gefährlich angesehen werden.

Welche anderen Sprach- und Diskursmuster werden von den Medien verwendet, um ein bestimmtes Framing rund um das Thema Migration zu schaffen? 

Entmenschlichende Metaphern gehören zu den häufigsten diskursiven Mitteln. Zwei Beispiele sind Wasser- und Objektmetaphern. Zum Beispiel “a new wave of refugees” oder “a steady flow of migrants”. Oder eine andere Metapher, die zwar positiv klingt, aber besagt: „to import the best and the brightest the world could offer“, was eigentlich impliziert, dass die fraglichen Menschen nur Waren sind, die importiert werden. Meine Kollegin und Freundin Charlotte Taylor veröffentlichte einen Artikel, in dem sie eine zeitliche Analyse von Migrationsmetaphern verfolgte. Sie fand heraus, dass entmenschlichende Metaphern wie Wasser- und Objektmetaphern in der britischen Presse schon seit 200 Jahren Beständigkeit haben. Die Wassermetapher war in der Vergangenheit beliebter und wurde für Siedler*innen, Einwanderer*innen, Zuwander*innen, Geflüchtete und Asylsuchende verwendet, aber interessanterweise nicht für Kolonialherrschende. 

Weitere Methoden wären Quantifizierung, Kollektivierung und Entpersonalisierung. So behandeln die Medien erstens alle Individuen als eine große Gruppe und zweitens werden die Merkmale und Eigenschaften und Handlungen einer einzelnen Person, die gefährlich sein könnte, in der Regel absichtlich auf alle Einwanderer*innen projiziert, was eine gefährliche Methode ist.

Und worauf können Leser*innen besonders achten, wenn sie die Nachrichten lesen?

Es gibt mindestens zwei wichtige Punkte, die zu berücksichtigen sind. Erstens wenden die politisch unterschiedlich ausgerichteten Zeitungen verschiedene Methoden bei der Darstellung von Migration an. Es ist also wichtig, dass Lesende verstehen, welche Art von Medien sie lesen, und dass das eine bewusste Entscheidung ist. Zweitens passen sich die Medien an das sich ändernde soziopolitische Klima an und wechseln ihre Methoden. Daher ist es wichtig, dass die breite Öffentlichkeit, für die sich ständig verändernden sprachlichen Muster sensibilisiert wird, die den politisch unterschiedlich ausgerichteten Medien helfen, die Identitäten der verschiedenen Gruppen zu konstruieren und so ihre konkurrierenden Ideologien zu fördern. Deshalb sollten Menschen sich bewusst sein, was sie lesen und wann sie es lesen.

Welche Beziehung besteht deiner Meinung nach zwischen den Medien, dem Brexit-Votum und dem aktuellen politischen Klima in Großbritannien? 

Die Entscheidung, die Europäische Union zu verlassen, wurde als eine der wichtigsten, aber auch katastrophalsten politischen Entscheidungen der Regierung seit den 1930er Jahren bezeichnet. Meine Forschungsarbeit hat allgemein zum globalen Verständnis des Mediendiskurses über Migration in Krisenzeiten beigetragen, indem sie gezeigt hat, wie schnell sich die britische Presse an den sich verändernden soziopolitischen Kontext des Brexits anpassen kann. Ich denke aber auch, dass es wichtig ist, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um zu verstehen, dass sich die Brit*innen größtenteils als nicht-europäisch identifiziert haben, sowohl in historischer als auch in kultureller Hinsicht. Identitäten sind Konstrukte, die teilweise als Konzepte im Verhältnis zu anderen Konzepten geschaffen werden. Die Festlandeuropäer*innen fungierten lange Zeit als signifikante Andere in der britischen Suche nach dem nationalen Selbst und ich glaube, dass die aktuelle politische Situation auch das Ergebnis dieses Diskurses ist, der darauf abzielt, die Andersartigkeit und sogar Überlegenheit der Brit*innen als kulturelle und nationale Identität zu betonen.

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