grenzenlos – ein Bookazine zur Ausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“
Vom 30. September 2020 bis zum 18. Juli 2021 zeigte das Museum der Arbeit in Hamburg die Ausstellung „Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand“. Ausgangspunkt waren die Defizite in der Aufarbeitung der Geschichte des Standorts und der Gummiindustrie in Hamburg. Dort, wo sich das Museum heute befindet, wurde Naturkautschuk aus deutschen und europäischen Kolonien verarbeitet. Wer diese spannende Ausstellung verpasst haben sollte, sorge sich nicht: Josephine Apraku, Christopher Nixon und Rita Müller haben bei Shift Books (früher KOCMOC Publishing Space) ein Bookazine zur Ausstellung herausgegeben. Das Werk – eine Mischung aus Buch und Magazin – ist ein wahres Kunstwerk: inspirierend, lehrreich und bereichernd. Zugrunde liegen die Ideen von Vielfältigkeit und Intersektionalität.
Jeder Aspekt der Publikation scheint bis ins letzte Detail durchdacht, auch wenn Christopher Nixon und Josephine Apraku in einem Gespräch zur Entstehung des Bookazines, das ein Teil dessen ist, selbstkritisch bleiben. Eine gewisse Ambivalenz gibt es meistens. Dennoch möchte ich hier vor allem die überzeugenden Elemente des herausfordernden Projekts vorstellen: Die Schriftart orientiert sich an Grafiken des Schwarzen Intellektuellen W. E. B. Du Bois, sodass jeder Buchstabe den widerständigen Inhalt unterstreicht. Die historischen Fotografien aus den ehemals von Deutschland besetzten Gebieten, die abgedruckt wurden, wurden verändert und mit Kommentaren kontextualisiert, um die Gewalt nicht zu reproduzieren, sondern zu brechen. Zudem überwiegt der Anteil an zeitgenössischen Fotografien von BIPOC Künstler*innen, die eigene Realitäten und Perspektiven darstellen. Der Inhalt ist mithilfe von Zitaten oder den Titeln von Werken bedeutender Schwarzer Schriftsteller*innen strukturiert worden – die Abschnitte heißen beispielsweise „Things Fall Apart“ nach Chinua Achebes Roman, „Poetry is not a Luxury“ nach Audre Lordes Essay und „Deutschland Schwarz Weiß“ nach Noah Sows Sachbuch. Neben den Fotografien gibt es essayistische und wissenschaftliche Texte, Interviews und Gedichte zu (Neo-)Kolonialismus, Rassismus, zeitgenössischer Ausstellungspraxis und den unterschiedlichen Lebenserfahrungen von BIPOC auf Englisch und Deutsch. Zu Wort kommen beispielsweise Natasha Kelly, Lahya Aukongo, Maria González Leal, Alok V. Menon und viele mehr.
Das Bookazine, so Apraku und Nixon im Vorwort, lädt auf uneindeutige, komplexe Wege des Sowohl-als-auch ein. Es richtet sich explizit an BIPOC, bietet aber ebenfalls einen Lernraum für weiße Menschen. Dies ist ein Coffee Table Book mit Tiefgang, das sicherlich spannende Gespräche mit Gäst*innen anstößt, vor allem weil es viele Fragen beinhaltet, denen sich Beitragende annähern, sie umkreisen oder auch im Raum stehen lassen, etwa: Welche Museumsbesucher*innen werden im Kurationsprozess mitgedacht? Wie kann heute koloniale Gewalt in Publikationen oder Ausstellungen thematisiert werden? Können weiße Menschen einen Beitrag leisten, um weißsein im Kontext von Kolonialismus kritisch zu reflektieren? Was ist ein konsequenter Umgang mit Diversität?
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