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Afropolitismus als ethisch-politische Haltung: Achille Mbembe

Dieser Essay ist der Zweite einer vierteiligen Serie zu Afropolitismus und Literatur. Der Begriff Afropolitismus setzt sich aus Afrika und Kosmopolitismus zusammen. Menschen afrikanischer Herkunft, die heute hier und Morgen dort leben, prägten diesen Begriff, um ihren mobilen Lebensstil und die daraus resultierende Kreativität und politische Haltung zu beschreiben. Mit dem Streben nach einer radikalen Offenheit schaffen Afropolit*innen vielfältige, kreative Visionen, in denen Menschen afrikanischer Herkunft überall gleichberechtigt dazugehören.

Neben der Schriftstellerin Taiye Selasi, die Sie im ersten Essay dieser Reihe kennen lernten, gilt der Politologe Achille Mbembe als Begriffspräger des Afropolitismus. Mbembe wurde in Kamerun geboren, lebt heute in Südafrika und lehrt an der Universität Witwatersrand in Johannesburg. Er zählt als Vordenker des Postkolonialismus und wurde für seine Werke bereits mit einer Vielzahl von internationalen Preisen ausgezeichnet. Sein Essay „Afropolitismus“ wirkt neben seinen anderen Werken eher unscheinbar: Er wurde zwei Jahre nach Selasis „Bye-bye Babar (Or: What is an Afropolitan?)“ veröffentlicht, hat gerade mal vier Seiten und erschien zunächst in einem Museumskatalog, der die Wanderausstellung „Africa Remix – Art of a Continent“ begleitete.

In Reaktion auf die „Africa Remix“ Ausstellung, die von Simon Njami kuratiert wurde, stellt Mbembe seine Idee des Afropolitismus als eine durch und durch afrikanische Daseinsform vor. Dieser Afropolitismus beinhaltet eine kritische Auseinandersetzung mit Afrika und der Welt. Als grundlegende Fragen dafür dienen Folgende: Welche historischen Prozesse haben den afrikanischen Kontinent und seine Bewohner*innen geformt? Was sind die bestehenden Denkrahmen, wenn es um Afrika geht, und wie positionieren sich Afrikaner*innen heute dazu? Welche Visionen entstehen aus dieser (Neu-)Positionierung im Angesicht globalgeschichtlicher Verwicklungen?

Afrikanische Intellektuelle versuchten schon früher Antworten auf ebendiese Fragen zu finden. Mbembe erklärt, dass sich so z.B. der Panafrikanismus, der antikoloniale Nationalismus und der afrikanische Sozialismus etablierten. Diese drei Strategien hinterfragen das Afrikanischsein und haben gemeinsam, dass sie sich klar von europäischen Definitionen distanzieren. Es sind also Gegenbewegungen zur europäischen Vormachtstellung, die mit dem Kolonialismus begann und heute durch wirtschaftliche Abhängigkeiten und sogenannten Entwicklungszusammenarbeitsprogramme weitergeführt wird. Die ablehnende Haltung Europa gegenüber scheint eine nachvollziehbare Herangehensweise, denn Europa hat einst den Kontinent gegen seinen Willen eingeteilt und seinen Bewohner*innen die eigenen Werte und Normen aufgezwungen.

Mbembe kritisiert, dass Afrika seit dem Kolonialismus entweder von Europa oder in Abgrenzung zu Europa beschrieben wurde. Das führte dazu, dass alle drei – Panafrikanismus, antikolonialer Nationalismus und afrikanischer Sozialismus – sich entweder auf internationale antiimperialistische Solidarität fokussierten oder auf transnationale Solidarität zwischen Schwarzen Menschen. Mbembe ist der Meinung, dass diese Strömungen nützlich waren, aber mittlerweile ausgedient haben. Er ist überzeugt, dass sie kein kreatives Potential für Analysen, Kulturkritik oder aktuelle Politik mehr bieten, gerade wegen ihrer Fixierung auf den Kolonialismus und dem daraus entstehenden nativistischen Reflex.

Im Gegensatz dazu scheint Afropolitismus einen frischen Impuls zu liefern über Afrika und Afrikaner*innen nachzudenken. Grundlegend gilt, dass Solidaritäten nicht anhand der machtvollen Erfindungen von ‚Race‘ (Schwarzsein oder weißsein) oder Nationalstaat gedacht werden sollten. Der Afropolitismus liefert keine klaren, alternativen Definitionen, sondern stellt bestimmte Eigenschaften in den Vordergrund. Zum Beispiel erklärt Mbembe, dass Afrika am stärksten von der Mobilität von Menschen geprägt wurde. Menschen zogen immer schon auf den Kontinent, weg von ihm oder kreuz und quer umher. Afrikanisch seien schließlich diejenigen, die afrikanische Kultur hervorbrächten. Zu dieser Kultur tragen auch schon lange diasporische Gruppen bei, die auf dem afrikanischen Kontinent leben: Asiat*innen, Menschen aus den Nahost-Ländern und Europa. Verschiedenste Menschen leben in Afrika und alle ihre Sprachen, Gewohnheiten in Bezug auf Kleidung und Essen, ihr Glaube, usw. machen den Kontinent aus. Ihr Zusammenleben führt automatisch dazu, dass sich Handlungsweisen vermischen.

Der Afropolitismus beinhaltet darüber hinaus ein Bewusstsein dafür, dass nicht alle Begegnungen zwischen verschiedenen Menschen auf dem Kontinent friedvoll waren. Gerade während der Kolonialzeit herrschte viel Gewalt. Dennoch handelte es sich um Begegnungen, die Menschen gewissen Unterschiedlichkeiten aussetzten und letztendlich zu neuen kulturellen Formen führten.

Mbembes Theorie ist ein Plädoyer für mehr Offenheit gegenüber anderen Menschen und ein breiter gefasstes Verständnis von Afrika und Afrikanischsein. Er sieht das, was er als Afropolitismus bezeichnet in der Kunstausstellung „Africa Remix“ bestätigt. Aber auch Antjie Krogs Buch Begging to be Black kann als Beispiel verstanden werden. Krog gehört zu der Gruppe der Afrikaaner*innen (früher auch Kapholländer*innen oder Bur*innen genannt), die zu der Gruppe der Hauptverantwortlichen der Verbrechen der Apartheid gehören. In ihrem teilweise autobiographischen Buch fragt Krog nun die Betroffenen des diskriminierenden Systems weißer Vorherrschaft, ob sie sie als Afrikanerin akzeptieren können.

Krog bestätigt zunächst, dass Afrikanischsein immer noch meistens als synonym mit Schwarzsein verstanden wird. Deshalb ist sie als weiße Person von dieser Identität ausgeschlossen, obwohl sie in Südafrika geboren und aufgewachsen ist. Ihr Buch ist ein Versuch afrikanische Geschichte aus Schwarzen Perspektiven zu verstehen. Sie hofft, dass sie, wenn sie sich kritisch mit der Apartheid und afrikanischen Erkenntnistheorien oder Wissenssystemen auseinandersetzt, die Trennung zwischen Schwarz und weiß ein Stückchen verringern kann. Krog streitet ab, eine Schwarze Essenz oder Unterschiede zu suchen. Stattdessen strebt sie danach die Referenzrahmen anderer Gruppen ihres Heimatlandes besser zu verstehen und sich so als vollwertiger Teil Südafrikas fühlen zu können.

Krog beginnt einen Prozess, indem sie um Erlaubnis fragt, dazugehören zu dürfen. Nicht alle werden sie mit offenen Armen empfangen. Aber Mbembes Theorie folgend, scheint sie in ihrem Buch Begging to be Black ein willkommenes Gedankenexperiment über die Bedeutung von Afrikanischsein zu starten. Krog denkt nämlich über neue Solidaritäten nach, die nicht an die Kategorie ‚Race‘ gebunden sind.

Mbembes Afropolitismus erscheint als innovatives Konzept, dass es Menschen erlaubt über die Bedeutungen von Afrika nachzudenken. Geschichte und Gegenwart werden konstant evaluiert, das Gute, das Schlechte, das Veränderbare und das Unveränderbare. Diejenigen, die afropolitisch denken und handeln, lehnen laut Mbembe jede Form der Viktimisierung ab. Deshalb bestünde die Möglichkeit, dass sie eine Afrikaanerin wie Krog auf Augenhöhe begegnen würden, trotz der früheren Gräueltaten. Mbembes Afropolitismus drückt eine ethisch-politische Haltung aus, die bei jeder Begegnung Respekt und Wertschätzung ins Zentrum stellt. Afropolitismus zu praktizieren bedeutet das gemeinsame Menschsein seines Gegenübers anzuerkennen, denn alle sind Teil dieser Welt und ihrer verstrickten Geschichte.

Doch Mbembes ethisch-politischer Anspruch verhindert nicht, dass Afropolitismus anfällig für kommerzielle Verwendung als Marketingbegriff ist. Mbembe hat nichts gegen den Austausch von Waren – er trägt letztendlich zur Entstehung der afrikanischen Hybridkultur bei. Doch in seinem kurzen Text zu Afropolitismus spricht Mbembe nicht über die Details ethisch-politischer Handelsbeziehungen. Darüber hinaus besteht keine Kontrolle darüber, wer sich den Afropolitismus zu eigen macht. Für viele mag der Begriff sexy klingen, wie eine positive Image Kampagne für Afrika. So überrascht es nicht, dass Kritiker*innen den Begriff Afropolitismus als apolitisch und kommerziell ablehnen. Entleert von Mbembes politischem Anspruch oder ohne Krogs kritische Selbsthinterfragung muss ich zustimmen.

Für Einblicke in andere afropolitische Perspektiven finden Sie bis August 2020 monatlich einen weiteren Essay zu dieser Thematik. Im nächsten Monat beschäftigt mich vor allem eine Perspektive fern ab von jeglichen Privilegien.

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