Die Seite befindet im Moment im Umbau, wir bitten um Verständnis!

: Macht Sprache ein Manifest für mehr Gerechtigkeit

Sonderfolge: Macht Sprache – Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit vorgestellt von Anna von Rath

In dieser Sonderfolge stellt Anna von Rath das Buch “Macht Sprache: Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit”, das sie mit Lucy Gasser geschrieben hat vor. Das Buch erscheint am 26.09.2024 im Ullstein Verlag und die Autorinnen möchten damite einen Beitrag zu einer produktiveren Diskussionskultur über diskriminierungskritische Sprachstrategien leisten. In dieser Folge stellt Anna das Buch vor, indem sie Auszüge aus dem Vorwort vorliest und einiges zur Entstehungsgeschichte und zur Motivation hinter dem Buch erzählt. 

Am Schluss gibt sie 2 Buch- und 1 Netflix-Empfehlung. 

Shownotes

Transcript

Anna: Hallo und herzlich Willkommen zu einer besonderen Folge vom poco.lit. Podcast. Ich bin Anna von Rath, eine der Gründerinnen von poco.lit. und ich bin heute alleine hier. In der letzten Folge hatten wir es ja schon angekündigt: Meine Co-Gründerin Lucy Gasser und ich haben ein Buch geschrieben:

„Macht Sprache – Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit“ erscheint am 26.9. im Ullstein Verlag.

Heute möchte ich euch ein bisschen über dieses Buch erzählen, worum es geht und wie es dazu kam, dass wir es geschrieben haben. Der Titel verrät schon einiges:

  • Es geht um Macht
  • Es geht um Sprache
  • Es geht um das, was wir mit Sprache machen können
  • Und zwar dann, wenn wir uns für mehr Gerechtigkeit interessieren. 

Das Manifest im Titel klingt vielleicht ein bisschen großspurig. Aber als wir die erste Idee zu dem Buch hatten, hat uns gerade das Manifest als Genre interessiert. Ein Manifest meint eigentlich nur ein Dokument, das den unzulänglichen Status quo kritisiert und darauf abzielt, Veränderung in der Welt herbeizuführen.Und in dem Buch setzten wir uns mit der Art und Weise auseinander, wie wir Sprache für genau so etwas nutzen können. 

In der heutigen Folge nehme ich mir das Vorwort zum Buch vor und gehe Stück für Stück durch. Ich lese euch ein paar Passagen vor und gebe euch noch ein paar zusätzliche Informationen dazu und erzähle, was wir uns dabei gedacht haben.

Wer unsere Projekte poco.lit. oder macht.sprache. ein bisschen kennt, kann sich vielleicht schon vorstellen, in welche Richtung das Buch geht. Aber für viele Leser*innen werden Lucy und ich und unsere Arbeit völlig unbekannt sein. Deshalb haben wir uns überlegt, mit zwei Szenen zu beginnen, die direkt vermitteln, um was genau es uns geht. Ich lese sie mal vor: 

Szene 1: 

Wir sitzen mit der Familie am Tisch und essen. Eins der Kinder hat die neueste Ausgabe von Jim Knopf und die Wilde 13 geschenkt bekommen. 

„Kein N-Wort mehr auf Lummerland“, freut sich ein*e Cousin*e.

Ich möchte gerade ergänzen, dass stereotype Beschreibungen insgesamt reduziert wurden, als einige Verwandte rufen: „Da hat die Sprachpolizei mal wieder durchgegriffen.“ Und: „Das ist doch Zensur!“

Plötzlich reden alle durcheinander. 

Die Stimmung kippt. 

Ich versuche, die Argumente für sprachliche Anpassungen in Kinderbüchern in meinem Kopf zu sortieren und mich konstruktiv ins Gespräch einzubringen. Doch immer wieder fällt mir irgendwer ins Wort. Und ich falle ihnen ins Wort. Wir werden laut, reden aufeinander ein und aneinander vorbei, bis meine Eltern den Nachtisch holen und das Thema gewechselt wird. 

Eine gewisse Unzufriedenheit bleibt in der Luft.

Szene 2:

Das Meeting beginnt und ein Mann hält einen ausführlichen Monolog.

Wie er spricht, trägt dazu bei, dass er ernst genommen wird. Der Bariton seiner Stimme, seine Worte und sein Akzent werden geschätzt und als richtig empfunden. 

Was er sagt, ist gar nicht so wichtig. Wie er es sagt, ist ausschlaggebend. Seine Selbstsicherheit lässt die Zuhörenden nicken.

Was er sagt, ergibt eigentlich keinen Sinn. Es ist Quatsch. 

Ich sollte darauf hinweisen. Aber wie? 

Wenn ich spreche, fallen mir nicht immer sofort die richtigen Worte ein, und deshalb werde ich für inkompetent gehalten. Ich lächle, um meine Kritik abzumildern, was mir als Schwäche ausgelegt wird. Meine Stimme ist ein Sopran, der als schrill gilt. Ich beende meinen Satz mit einem Fragezeichen, um in den Dialog zu gehen, aber meine Intention wird als Unsicherheit gedeutet.

Ich weiß, dass ich nicht ernst genommen werde. 

Am Ende des Meetings kommt der Mann zu demselben Schluss wie ich. Trotzdem denken alle, unser innovativer Plan käme von ihm. Ich werde beauftragt, Dokumente für ihn vorzubereiten, obwohl wir eigentlich gleichrangige Positionen haben.

So beginnen wir das Buch, das wir zu zweit geschrieben haben.

Die Szenarien sind Fiktion, aber wir haben beide schon ungefähr solche Situationen erlebt und können uns vorstellen, dass es zumindest einigen Leser*innen ähnlich gehen könnte. 

Wir wollten mithilfe von diesen Szenarien schon einige Aspekte anreißen, um die es in den folgenden Kapiteln gehen wird: 

  • Sprachveränderungen werden häufig hitzig diskutiert
  • Dabei hören Beteiligte sich manchmal gar nicht richtig zu, sondern geben stattdessen nur ihre vorgefertigte Meinung wieder
  • Das Gespräch geht dann gar nicht wirklich um diskriminierende Sprache, warum sie ein Problem ist und wie Diskriminierung reduziert werden könnte
  • Ehrlich gesagt, ist es manchmal fast gar kein Gespräch, sondern verschiedene Menschen führen Monologe 
  • Sowas kann im familiären Kontext, unter Freund*innen oder auch bei der Arbeit passieren
  • In vielen Situationen spielt das, was gesagt wird, vielleicht sogar eine geringer Rolle als das, wie es gesagt wird

Insgesamt geht es in dem Buch eigentlich nicht um uns selbst – also wir ziehen später kaum Anekdoten oder Beispiele aus unserem eigenen Leben heran, sondern sprechen hauptsächlich über Büchern, Filmen, Comedy, historische Ereignisse, Forschung, Aktivismus, usw. um zu erklären, welche Macht Sprache hat, wie sie diskriminiert und welche Möglichkeiten es gibt, sich diskriminierungskritisch zu verhalten.  Aber im Vorwort wollten wir verdeutlichen, welche Beziehung wir als Autor*innen zu den Themen im Buch haben. 

Im Vorwort versuchen wir also in gewisser Weise uns zu den Themen zu positionieren – zu zeigen, aus welcher Position heraus wir über Sprache und Diskriminierung sprechen. Wir machen das schon an der Stelle, bevor wir in Kapitel 1 ausführlich darauf eingehen, was wir eigentlich genau unter Positionierung verstehen, hoffen aber, dass es auf diese erzählerische Weise gut nachvollziehbar ist.

Und jetzt möchte ich 2 weitere Absätze aus dem Vorwort vorlesen, die sich auf die beschriebenen Szenarien beziehen – also die Diskussion mit der Familie und das Arbeits-Meeting mit dem monologisierenden Mann:

In solchen Situationen kommt es wiederholt dazu, dass uns nicht zugehört wird, wenn wir uns auf eine Art und Weise ausdrücken, die als weiblich verstanden wird. 

Wer ernst genommen werden möchte, muss offenbar bestimmte Kriterien erfüllen, und einige davon haben mit der Wortwahl und der Sprechweise zu tun. 

Diese Kriterien gelten als allgemein bekannt, auch wenn sie selten konkret benannt werden. Sie gelten als universell, auch wenn sie spezifisch sind. Manche dieser Kriterien beziehen sich auf Gender. Andere, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, auf Klasse oder Nationalität. 

Wir hatten beide das Privileg einer universitären Ausbildung, aber wir haben die Uni oft als befremdlichen Ort wahrgenommen, weil wir nicht mit den vorausgesetzten Verhaltensweisen inklusive eines bestimmten Vokabulars aufgewachsen sind. 

Wir saßen in Seminarräumen, in denen Kommiliton*innen Begriffe, Konzepte und Namen von Theoretiker*innen erwähnten, die nichts mit den Texten, die wir für die Lehrveranstaltungen lesen sollten, zu tun hatten. Manchmal, aber nicht immer, kam uns ein Name vage bekannt vor, aber wir hätten kein Zitat oder ausformuliertes Argument anbringen können. 

Obwohl wir vorbereitet ins Seminar kamen, schienen viele andere, passendere Voraussetzungen zu haben – oder sie waren zumindest in der Lage, so zu tun. Für eine von uns ist Deutsch eine Zweitsprache, die oft wenig einladend ist. Termine bei Ärzt*innen oder Behörden vermitteln den Eindruck, dass Gesprächspartner* innen auf dich herabschauen, wenn du nicht „korrekt“ Deutsch sprichst. 

Wenn du die bürokratische Sprache nicht verstehst, die dir sagt, was du tun sollst, kann die Annahme entstehen, du seist unfähig, den Instruktionen zu folgen. Manchmal reagieren Leute dann herablassend oder sprechen lauter, damit du sie besser verstehst. Beides ist unangenehm. Beides gibt dir das Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Hier haben wir also darüber geschrieben, in welchen Situationen wir Sprache oder bestimmte Sprechweisen als ausschließend empfunden haben. 

Jetzt, wo ich es euch vorgelesen habe, fällt mir auf, dass es oft Situationen waren, in denen uns die Worte gefehlt haben. Also bestimmte Begriffe, die gezeigt hätten, dass wir im Uni-Seminar zu den Wissenden gehören, die sich in diesem Umfeld wie ganz selbstverständlich bewegen. Oder deutsche Wörter, weil Deutsch – nicht für mich, aber für Lucy, meine Co-Autorin – eine Fremdsprache ist. Ich habe ähnliches mit anderen Sprachen erlebt, in den Zeiten, in denen ich im Ausland gelebt habe. Vielleicht kennt ihr auch Situationen, in denen ihr das Gefühl hattet, dass euch die Worte fehlen, um euch selbst zu vermitteln.

Ich finde es auf jeden Fall total unangenehm, in einen Raum zu kommen und mich irgendwie falsch zu fühlen oder nicht gehört zu werden. 

Um so bereichernder war es für mich, z.B. durch die Beschäftigung mit Feminismus ein Vokabular zu bekommen, dass mir geholfen hat, manche dieser Situationen zu benennen. Das klingt vielleicht übertrieben, aber ich habe schon oft gedacht, Feminismus hat mich in gewisser Weise gerettet, unter anderem weil er mir eine Sprache gegeben hat, der mich die Welt und bestimmte Erfahrungen, die ich in ihr mache, besser verstehen lässt. 

Deshalb schreiben wir im Vorwort von „Macht Sprache: Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit“ Folgendes – ich lese wieder vor:

In anderen Situationen erlebten wir Sprache als wirksames Werkzeug, mit dem wir diskriminierende Strukturen benennen können. 

Dafür danken wir den Denker*innen, die uns mit nützlichem Vokabular und Konzepten ausgestattet haben. 

Einen Begriff für etwas zu haben kann ermöglichen, ein Erlebnis nicht mehr als Einzelfall, Ausnahme oder unglücklichen Zufall zu verstehen, sondern als Teil von größeren Strukturen. 

Ein Beispiel dafür wäre „Manspreading“, um zu beschreiben, dass Männer manchmal überproportional viel Raum einnehmen – wenn sie viel Redezeit für sich beanspruchen, so wie in dem zuvor beschriebenen Meeting, oder physisch, wenn sie breitbeinig in einer U-Bahn sitzen und ohne Rücksicht auf die Person neben ihnen mehr als einen Sitzplatz vereinnahmen. 

Manspreading ist in einer patriarchalen Gesellschaft keine Seltenheit. 

Bevor das Phänomen benannt wurde, wirkte es auf diejenigen, denen auf diese Weise Raum genommen wurde, vielleicht wie ein schwammiges Gefühl. Vielleicht stellten sie sich selbst und das Gefühl infrage. 

Jetzt, wo Manspreading einen Namen hat, kann ein Gespräch darüber entstehen, wie unterschiedlich sich Menschen verschiedener Geschlechter im öffentlichen Raum bewegen (können).

Schon bevor ich das Wort „Manspreading“ kannte, ist mir oft aufgefallen, dass viele meiner männlichen Freunde oder Verwandten sich im öffentlichen Raum ganz anders bewegen. Dass mein Impuls eher ist, mich kleiner zu machen, nicht im Weg zu sein, darauf zu achten, dass alle genug Platz und genug Redezeit bekommen oder dass ich versuche, Leute aktiv mit ins Gespräch reinzuziehen. 

Als ich den Begriff „Manspreading“ kennenlernte, war das wie eine kleine Erleuchtung für mich. Genau wie „Mansplaining“ oder „Mental Load“.

Witzig eigentlich, dass mir gerade als erstes lauter englischsprachige Beispiele eingefallen sind. Es gibt ja viel Kritik daran, dass Englisch so viel Einfluss auf die Deutsche Sprache nimmt. Wir haben im Buch ein ganzes Kapitel dazu, warum es trotzdem in manchen Situationen nützlich sein kann, Begriffe aus anderen Sprachen zu übernehmen – zumindest vorerst. Das lest ihr dann vielleicht…. 

Auf jeden Fall haben unsere persönlichen Erfahrungen mit Sprache dazu geführt, dass wir uns bewusster mit Sprache und ihrer Macht auseinandersetzen wollten. 

Dabei wurde uns aber schnell klar, dass unsere eigenen Perspektiven begrenzt sind. Meine unterscheidet sich von Lucys, wir sind in verschiedenen Ländern – auf unterschiedlichen Kontinenten – aufgewachsen, die je eigene Geschichten haben, was unsere Perspektive auf die Welt prägt. Was wir mögen, wie und wo wir arbeiten, mit wem wir Beziehungen führen oder zusammenleben – all diese Dinge unterscheiden sich. 

Aber dennoch ist es so, dass unsere Biografien, wie eigen und speziell sie auch sein mögen, sich in größere historische Zusammenhänge und Machtgefüge einfügen. 

Auch die Begrenztheit unserer Perspektive sprechen wir direkt im Vorwort an:

Die Perspektive, die wir in diesem Buch auf Fragen rund um Diskriminierungskritik teilen, ist durch unsere Positionierungen eingeschränkt. 

Daraus leiten wir die Verpflichtung ab, über unsere eigenen Positionierungen hinauszudenken, uns auf weitere Perspektiven einzulassen und von ihnen zu lernen. 

Dabei werden wir unweigerlich Fehler machen. 

Als weiße Frauen nehmen wir die Kritik am weißen Feminismus von feministischen Denkerinnen wie Sara Ahmed, bell hooks und Chandra Mohanty ernst, dass es Schaden anrichten kann, Diskriminierung nur unter den Aspekten zu betrachten, die uns persönlich betreffen. 

Deshalb bemühen wir uns, intersektional zu denken und Diskriminierungsformen mit in unsere Überlegungen einzubeziehen, von denen wir selbst nicht direkt betroffen sind. Aber wie sehr wir uns auch anstrengen, werden wir die Kluft, die zwischen angelesenem Wissen und gelebten Erfahrungen existiert, nicht überbrücken können. 

Unsere Bemühungen stellen einen fortlaufenden Prozess dar, der nie vollständig abgeschlossen sein wird. Das Lernen geht weiter.

Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zu einer produktiven Diskussionskultur über diskriminierungskritische Sprache zu leisten. 

Die Arbeit, auf diskriminierende Strukturen aufmerksam zu machen, sollte nicht nur den Menschen aufgebürdet werden, die am meisten unter ihnen leiden. 

Nur weil wir Frauen sind, wollen wir nicht immer die Männer in unserem Umfeld über Sexismus aufklären müssen. 

Nur weil eine Person mit einem Rollstuhl unterwegs ist, muss nicht sie es sein, die das Verkehrsunternehmen darauf aufmerksam macht, dass die Straßenbahn nicht barrierefrei ist. 

Diese Arbeit können alle Mitglieder einer Gesellschaft leisten, wenn sie diese gerechter gestalten möchten.

Also, uns ist es wichtig, in dem Buch klar zu machen, dass wir selbst Lernende sind und versuchen mit einer gewissen Demut an die Themen heranzugehen. Wir versuchen uns als Lernende an dem Prozess zu beteiligen, Gespräche über Sprache und Diskriminierung produktiver zu machen. 

Wir hoffen, das gelingt uns zumindest ein bisschen. Aber das werdet ihr, falls ihr das Buch lest, uns sicherlich rückmelden können. 

Im Vorwort gehen wir auch noch darauf ein, wie die Arbeit an poco.lit. und macht.sprache. in gewisser Weise ein Auslöser für das Buch war. 

Das bilinguale Online-Magazin poco.lit. haben wir 2019 gegründet. Wir wollten gerne die Sichtbarkeit von postkolonialen Themen und postkolonialer Literatur in Deutschland und darüber hinaus vergrößern. 

Seitdem gibt es jede Woche eine Buchrezension, einen Essay oder ein Interview auf poco.lit. und zwar immer auf Deutsch und auf Englisch. Und dieser Podcast ist in gewisser Weise eine Weiterführung des Online-Magazins.

Unser Interesse für diese Art von Literatur entspringt einer Liebe für das Geschichtenerzählen, aber auch persönlichen oder familiären Verbindungen mit verschiedenen (post-)kolonialen Kontexten wie Deutschland, Kanada, Indien oder Südafrika.

Ich habe zum Beispiel Familie in Kanada und habe eine Zeit lang dort bei meinen Verwandten gewohnt. Mir ist damals aufgefallen, dass die meisten meiner Mitschüler*innen an der High School Vorfahr*innen aus England, Schottland, Irland, Deutschland oder Polen hatten. Auf mich und meine Verwandten traf das auch zu. Ich habe mich darüber gewundert. Aber ich habe erst, als ich später in Deutschland englische Literatur- und Kulturwissenschaften studiert habe, den Begriff „Siedlungskolonialismus“ kennengelernt. Damit sind europäische Kolonialist*innen gemeint, die Land in Besitz nahmen, um dort zu bleiben. Die Folgen davon habe ich in Kanada in meinem Alltag wahrgenommen, konnte es aber zunächst nicht benennen.

Und auch über die deutsche Kolonialgeschichte lernte ich erst im Englisch-Studium. Daher die Idee zu poco.lit., um dieses Wissen über koloniale Zusammenhänge bekannter zu machen.

Dadurch, dass wir poco.lit. auf Englisch und Deutsch betreiben, stießen wir immer wieder vor die Herausforderung, sehr kontextspezifische Begriffe übersetzen zu müssen, Begriffe, die mit Rassismus und anderen Formen von Diskriminierung zu tun haben. Wir haben uns immer wieder gefragt, wie wir damit umgehen sollen. Und unsere Gespräche untereinander waren hilfreich. Aber wir wollten, das Gespräch noch erweitern, es um weitere Perspektiven ergänzen. 

Also starteten wir 2021 zusammen mit zwei weiteren Kollegen das Projekt macht.sprache.

Die Web-App bietet einen Raum für den kollaborativen Aufbau von Wissen für eine diskriminierungskritische Übersetzungspraxis zwischen Englisch und Deutsch. 

Nutzer*innen können diskriminierende Begriffe und weniger diskriminierende Alternativen sammeln, diskutieren und bewerten. 

Dieses Wissen fließt in ein digitales Tool, das Textausschnitte auf diskriminierende Wörter überprüft. 

macht.sprache. ist ein Projekt, das dank gelegentlicher Fördermittel existiert und Interessierten frei zur Verfügung steht. 

Das bedeutet, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen und Fachkenntnissen austauschen können, die darüber hinaus jeweils eigene Erfahrungen mit verschiedenen Arten von Diskriminierung gemacht haben.

Als wir macht.sprache. starteten, begannen wir auch gezielt Diskussionsveranstaltungen und Workshops mit verschiedenen Expert*innen durchzuführen, die irgendwie mit Sprache arbeiten und dies bewusst aus unterschiedlichen Positionierungen tun. Wir haben zum Beispiel Veranstaltungen mit Lann Honrscheidt, Seyda Kurt, Mirjam Nünning, Michaela Dudley, Khairani Barokka usw. durchgeführt. Viele der Personen, mit denen wir bei unseren Veranstaltungen sprechen konnten, zitieren wir im Buch. Wir konnten durch sie so viel lernen! Ihr könnt teilweise auch Aufnahmen der Veranstaltungen auf unserem Youtube Kanal finden. 

Und jetzt lese ich euch noch den Schluss des Vorworts vor: 

Unser bescheidener Beitrag in diesem Buch besteht in erster Linie darin, das Wissen unserer Recherchen und Gespräche zusammenzutragen und zu kuratieren. Wir haben zwar einen akademischen Hintergrund, dieses Buch entspringt jedoch unseren Erfahrungen aus der Praxis, und wir versuchen, möglichst zugänglich und praxisorientiert zu schreiben (ob uns das gelingt, ist eine andere Frage).

Und dann lasse ich ein paar Zeilen aus. 

Das Buch dürfte für diejenigen am nützlichsten sein, die in Bezug auf Sprache und Diskriminierung viele offene Fragen haben. Wir schreiben für diejenigen, die uns um Ressourcen gebeten haben, und auch für diejenigen, die den polarisierenden Stil, in dem sprachliche Diskriminierung manchmal öffentlich diskutiert wird, befremdlich finden. Wir möchten zu einer produktiveren und differenzierteren Diskussionskultur über den Sprachwandel beitragen, damit sich mehr Menschen eingeladen fühlen, sich an ihr zu beteiligen.

Damit endet das Vorwort und dann geht’s richtig los. 

Im ersten Teil gehen wir in 3 Kapiteln, auf Positionierung, Privilegien und Macht ein, also auf unser grundsätzliches Verständnis von Sprache  und Diskriminierung und die größeren Strukturen.

In Teil 2 legen wir die Grundprinzipien dar, die als Handlungsmaßstäbe für das Streben nach einer diskriminierungskritischen Sprachpraxis dienen können. Da geht es um die politischen Dimensionen sprachlicher Entscheidungen, um Demut und um den Umgang mit verletzender Sprache.

Teil 3 stellt dan konkrete Handlungsoptionen vor, die für eine diskriminierungskritische Sprachpraxis nützlich sein können. In dem Teil gibt es unter anderem Kapitel zu verschiedenen Schreibweisen, zu Metaphern, zur kontextspezifität von Sprache und zu Humor und weiteren Aspekten.

So viel als kleine Einführung in das Buch „Macht Sprache: Ein Manifest für mehr Gerechtigkeit“. Vielleicht ist es ja für einige von euch interessant? 

Es erscheint am 26.9. und ihr könnt es in der Buchhandlung eurer Wahl vorbestellen.

Normalerweise würden an dieser Stelle Buchempfehlungen einer Berliner Buchhandlung folgen. Aber heute nutze ich die Gelegenheit, um euch Bücher und Shows zu empfehlen, die wir im Buch erwähnen.

  1. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie von Patricia Hill Collins

Full disclosure: Ich habe dieses Buch gemeinsam mit Daphne Nechyba und Echo Foidl ins Deutsche übersetzt. Und alle, die mich in der Zeit getroffen haben, wissen, wie begeistert ich von dem Buch bin und wie oft ich in der Zeit gesagt habe: „Also Patricia Hill Collins sagt, das und das…“

Es ist ein wissenschaftliches Buch, keins, das sich mal eben so weg liest. Auch beim übersetzen habe ich manchmal einen ganzen Tag für eine einzige Seite gebraucht… 

Aber wenn ihr Kapazitäten für eine Auseinandersetzung mit dem Buch habt, würde ich sagen, lohnt es sich bestimmt. 

Collins schaut sich Intersektionalität als analytisches Forschungswerkzeug und als kritische Praxis an. Sie blickt zurück auf die Anfänge, wann und warum Intersektionalität eingeführt wurde und wie schnell und weit sich die Idee der Intersektionalität verbreitet hat. Sie erklärt, dass die Verbreitung einerseits total super ist, aber dann die Gefahr besteht, dass sich die Ideen hinter diesem Konzept verwässern. Daher ist es Collins ein Anliegen, die Konturen dieses Konzepts zu schärfen, damit Intersektionalität weiterhin relevant bleibt. 

  • Blutbuch von Kim de l’horizon

Im Macht Sprache Buch sprechen wir darüber, dass einige Menschen genderinklusive Schreibweisen kritisieren, weil sie Texte verunstalten würden. 

Wir erwähnen dann, dass die Belletristik – also die schöne Literatur – vielleicht ermöglichen kann, Schönheit zu erkennen und auch neu zu definieren. 

Und an der Stelle kommt Kim de l’Horizons Blutbuch ins Spiel. Dieser autofiktionale Roman hat 2022 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhalten, einerseits, weil es so eine unglaublich spannende Familiengeschichte ist, aber andererseits auch gerade weil Blutbuch mit bestehenden sprachlichen Genderkonventionen bricht.

Also große Leseempfehlung!

  • Die Comedy Show Nanette Hannah Gadsby

Ich habe sie auf Netflix gesehen.

Hannah Gadsby ist eine australische Komödiantin. 

In der mehrfach preisgekrönten Comedyshow spricht Gadsby verschiedene Formen heteropatriarchaler Gewalt an – und schafft es, das mit ziemlich leichter Hand zu tun.  

Gadsby weist wiederholt darauf hin, sie müsse mit ihrer bisherigen Art von Comedy aufhören. Und das macht ihre Show zu etwas Besonderem. 

Sie erklärt, dass sie, die als Lesbe extrem schmerzhafte Erfahrungen von Ausschluss und Abwertung gemacht hat, bisher in ihren Witzen vor allem mit Selbstabwertung gearbeitet habe: „Ich habe mich selbst schlechtgemacht, um die Erlaubnis zu bekommen, zu sprechen.“

Sich selbst dem Verständnis der Mehrheitsgesellschaft entsprechend lächerlich zu machen, schien für den Moment auf der Bühne zu einer fragilen Akzeptanz zu führen. 

Doch nun führt Gadsby ihrem Publikum vor, wie perfide diese Art von Comedy war: Sie macht zwar weiterhin Witze und Pointen, scheint aber bewusst dafür zu sorgen, dass ihrem Publikum das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt, indem sie ihre Geschichten weiter ausschmückt, damit ihr Schmerz kein Witz bleibt, sondern als solcher nachvollziehbar wird. 

Sie macht, das, weil Geschichten ihrer Ansicht nach eine heilende Wirkung haben. Gadsby erklärt: „Lachen ist nicht unsere Medizin. Geschichten sind unser Heilmittel. Lachen ist nur der Honig, der die bittere Medizin süßt.“

Das waren meine 3 Empfehlungen für heute. 

Jetzt möchte ich euch noch einladen zum poco.lit Community Event am 28.9. im Satellit in Berlin. Wir machen ein klein bisschen Programm, aber hauptsächlich freuen wir uns, euch mal persönlich zu treffen. Alle Infos findet ihr auf pocolit.com.

Außerdem noch der kurze Hinweis, dass ihr helfen könnt, die verschiedenen Formate von poco.lit. nachhaltiger und unabhängiger zu machen: Ihr könnt unsere Arbeit über Steady unterstützen.

Vielen Dank fürs Zuhören, macht’s gut und bis zum nächsten Mal.