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Kohraa (1964) und die Diversifizierung der Schauerfilme

Schauerliteratur war ein Kurs für fortgeschrittene Studierende, weshalb ich ihn in meinem ersten Jahr an der Uni noch nicht besuchen durfte. Zu dieser Zeit trug ich nur schwarz und hatte bereits einige Jahre zuvor, noch während meiner Schulzeit, sowohl Jane Eyre als auch Dracula gelesen – freiwillig. Selbstverständlich war ich aufgebracht.

Größtenteils dank Online-Communitys wie BookTube und Booktok haben sich inzwischen Buchliebhaber*innen und Verlage in dieses Literaturgenre verliebt. Doch was mich stört an all diesen Videos in Gothic-Ästhetik, die über Ausgaben von DraculaSturmhöhe und Jane Eyre schwenken, ist, dass es immer die gleichen Bücher sind. Trotz der großen Auswahl ist der digitale Raum für Schauerliteratur überwiegend weiß.  

Das Tolle an Kinofilmen ist derweil, dass sie dabei helfen, diese Ästhetik des Storytelling zu diversifizieren; ihr dachtet doch nicht, ich würde nicht auf die Debatte Bücher vs. Filme eingehen?! Daher war ich besonders begeistert, als ich das erste Mal auf Biren Nags Kohraa (zu Deutsch: der Nebel; keine deutsche Fassung) gestoßen bin, ein Film aus 1964 und eine Adaption von Rebecca, einem Roman von Daphne du Maurier und einem Film von Alfred Hitchcock. Nur um das klarzustellen, ich bin ein großer Fan der Arbeiten beider Regisseure, es geht also nicht darum, einen Favoriten zu bestimmen. 

Die Waise Rajeshwari soll mit dem psychisch kranken Sohn ihres Vormundes verheiratet werden, anscheinend, um ihn zu heilen. Doch dann trifft sie Amit, einen reichen Geschäftsmann, als sie sich beide von einer Klippe stürzen wollen. Stattdessen verfallen sie einander und heiraten. Als sie mit Amit in seinen Panoptikum-anmutenden Familiensitz, Mayfair Manor, zurückkehrt, stolpert sie in eine verlassene Festung, die vom Geist von Amits erster Ehefrau, Poonam, heimgesucht wird. Wortwörtlich. Anders als in Rebecca, wo sich der Spuk auf einer psychologischen Ebene abspielt. Poonam rüttelt an Fenstern, schaukelt Stühle, lockt Rajeshwari auf ein Dach und machte mich generell froh, dass ich Kohraa bei Tageslicht geschaut habe.

Es frustrierte mich, dass in dem Wenigen, das über Kohraa, der übrigens ein Kinoflop war, geschrieben wurde, der Film als ein moralisches Lehrstück verstanden wird. Es wird dem indischen Kino nicht gerecht, es ständig in die Schublade der Bestrafung weiblicher Hauptrollen, die nicht dem Bild Sitas entsprechen, zu stecken. Als Rebeccas wahrer Charakter zum Vorschein kommt, wird ihre Grausamkeit unweigerlich mit ihrer sexuellen Promiskuität verknüpft. Sowohl Poonams als auch Rebeccas Schicksal ist wesentlich dadurch bestimmt, dass sie für ihre Sünden bestraft werden. Denn seien wir ehrlich, wenn es etwas gibt, auf das sich Kunst und Medien rund um den Globus einigen können, dann ist es die Bestrafung von Frauen.

Ich hätte mir Kohraa allein wegen Waheeda Rehman angesehen, aber dieser Film ist auch visuell beeindruckend. Während Rebeccadie Stille nachahmt und Winkel und Beleuchtung einsetzt, um die Protagonistin so zu verkleinern, dass sie von der Weite Manderlys verschluckt wird, ist Birens Kinematographie schrill, klaustrophobisch und chaotisch. Schräge Kamerawinkel und extreme Nahaufnahmen von Dai Maa, Poonams sklavisch ergebenem Dienstmädchen, das Rajeshwari beim Schlafen anstarrt, sorgen für ein unangenehmes Seherlebnis, das dich dennoch fesselt, ohne dass du dabei auch nur eine Ahnung hast, wie es ausgehen wird. Nun, wenn ihr das Buch gelesen habt, wisst ihr es, aber es gibt eine zusätzliche Wendung. Muss. widerstehen. zu spoilern!!!   

Es gab seither zwar Adaptionen von Nags Film, aber ich wünschte mir mehr solche Meisterwerke in Bollywood. Es zersetzt die Erwartungen der Zuschauer*innen komplett. Es ist gleichzeitig eine Hommage an einen anderen großartigen Filmemacher und etwas zutiefst Indisches. Es kommen auch Lieder vor, die gespenstisch und wunderschön sind. Es ist etwas schwierig, an Kohraa heranzukommen. Es gibt auf YouTube einige Versionen in schlechter Qualität (leider ohne Untertitel), aber falls ihr die Möglichkeit bekommt, schaut sie unbedingt bei Tageslicht – oder zumindest nicht neben einem Schaukelstuhl. 

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