Reisende Ideen und ihr Gepäck

Reisende Ideen und ihr Gepäck

Reisen ist ein Privileg, dass sich nicht alle leisten können.  Das mag in heutzutage etwas übertrieben klingen, dennoch ist es eine Realität für die meisten Menschen dieser Welt. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Reisen mit dem Flugzeug mehrere hundert Euro kostete und schnell zu reisen (z. B. mit der Concorde), die Hälfte des Preises eines neuen Autos ausmachten. Reisen ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage der Perspektive:  Wie kann ein Ort wirklich gesehen, gehört und verstanden werden, ohne ihn zu besuchen?

Ob ihr es glaubt oder nicht, aber während ich Norditalien bereiste, traf ich eine Frau, die in den toskanisch-emilianischen Apenninen lebt (gleich weit entfernt vom Tyrrhenischen und Adriatischen Meer) und nicht ein einziges Mal die 1:30 Stunden zum Meer gefahren ist. Sie ist einfach oben auf dem Berg geblieben. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie keine Idee davon hat, wie der Strand aussieht, sondern nur, dass sie den Weg dorthin nicht kennt. Warum sich die Mühe machen, wenn sie durch Kino, Fernsehen und Literatur reisen kann; wenn Mohamed nicht vom Berg herunterkommt…

Nicht nur Menschen reisen, sondern auch Kulturen. Es ist unmöglich, in eine andere Kultur zu reisen (physisch oder über die Künste), ohne die eigene Kultur in die andere miteinzubringen. Stell dir das wie Gepäck vor. Obwohl die meisten Menschen gerne mit leichtem Gepäck reisen würden, gibt es Dinge, die wir einfach nicht zurücklassen können. Kulturell kann es sich dabei um Dinge wie das Zählen mit der Hand handeln: Beginnt man mit dem Daumen oder dem Zeigefinger? – wie in der Kultszene in „Inglorious Basterds“. Oder wie wir Tiere imitieren (bellt ein Hund wau wau oder bau bau oder sogar hau hau.) Das gilt auch für die Art des Denkens. Assoziationen und Wahrnehmungen, die Bausteine jeder Idee, werden durch unseren Hintergrund geformt. Es ist wie der Rorschach-Test der Kultur. Daher sprechen solche Beobachtungen für das Gesamtbild des milieubedingten Aspekts von Ideen. Dies wurde mir besonders deutlich, als ich Youssef Idris‘ „The Cheapest Nights“ las, das von der alexandrinischen Übersetzerin Wadida Wassef hevorragend aus dem klassischen sowie ägyptischen Arabisch ins Englische übersetzt wurde. 

Youssef Idris war ein ägyptischer Schriftsteller. Er ist auf dem Land aufgewachsen und war der erste seiner Familie, der in die große Stadt zog. In seinem Fall Kairo. Für die ägyptische Literaturtradition ist er von großer Bedeutung, weil er das typische Alltagsleben des ägyptischen Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht das idealisierte Bild der arabischen Identität.

Beim Lesen der englischen Fassung dieser wunderbaren Kurzgeschichtensammlung sind mir eine Reihe von Dingen aufgefallen. Es begann mit der von Wassef selbst verfassten Einleitung, in der sie ihre Hindernisse für eine vollständige Wiedergabe des Textes erläutert. Während die Erzählung selbst in klassischem Arabisch verfasst ist, sind die Dialoge in ägyptischem Arabisch geschrieben. Ein Unterschied nicht nur in der Sprachvielfalt, sondern auch im Stil. Hier ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bis heute verpönt ist, in den vielen Dialekten und Varietäten der arabischen Sprache zu schreiben, da sie als minderwertig gegenüber dem „reinen“ (und fast „liturgischen“) koranischen Arabisch angesehen werden. Das Problem ist, dass in Ägypten nur die Gebildeten ein gewisses Maß an klassischem Arabisch beherrschen, das an sich nicht zu 100 % mit dem ägyptischen Arabisch verständlich ist. Dieser Unterschied ist so groß wie der zwischen Latein und Italienisch. Es ist nicht unmöglich, es zu verstehen, aber es erfordert dennoch einen besonderen Zugang zu Informationen und Bildung, um es passiv zu verstehen, geschweige denn zu sprechen oder zu schreiben. Die Tatsache, dass der Autor sich dafür entschieden hat, in seinen literarischen Werken noch das gesprochene ägyptische Arabisch zu verwenden, hat also ein bedeutendes kulturelles Gewicht. Und genau an dieser Stelle können Ideen nicht reisen. Wassef, die sowohl das Arabische als auch das Englische fließend beherrscht, konnte diese entscheidende stilistische/sprachliche Idee in ihrer Übersetzung dennoch nicht vermitteln, da der Unterschied zwischen Dialekten/Varietäten in der Zielsprache Englisch nicht so kulturell aufgeladen ist. Und irgendeine Transliteration einer Varietät der englischen Sprache zu verwenden, wäre nicht nur äußerst unangemessen, wenn nicht gar beleidigend, sondern darüber hinaus furchtbar ungeeignet, den kulturellen Begriff der Sprache in einer postkolonialen Gesellschaft zu beschreiben. Darüber hinaus handelt es sich um einen Kontext, der so spezifisch für die ägyptische Erfahrung ist, dass den meisten nicht-ägyptischen Lesenden die Schnittmenge zwischen Sprache, Register und sozioökonomischer Stellung entgehen würde. Die Ideen sind zu schwer, um kulturelle Grenzen zu überbrücken.

Hier soll das Werk als das genossen werden, was es ist: eine Erzählung. Alles andere würde eine Einführung in die Linguistik und ein Flugticket nach Ägypten erfordern (ich empfehle jedem, der von Berlin aus fliegt, Aegean Airlines): Eine Reise wäre notwendig, um sich ein Bild von der dortigen Sprachsituation zu machen.

Die kleinen, aber kulturell sehr aufgeladenen Alltagsthemen können ebenfalls ein gutes Beispiel für „sesshafte Ideen“ sein. Diese lassen sich nicht gut transportieren, da sie stark von Ort, Geschichte und Kultur abhängig sind. In einer der Kurzgeschichten stellt der Protagonist eine Hausangestellte ein (in Ägypten einfach als Dienerin – khadamma – bezeichnet). Der Protagonist, der in einem Hochhaus auf der prestigeträchtigen Insel Zamalek in Kairo wohnt, stellt eine Frau ein, die mit einer melaya – einem Bettlaken – bekleidet ist. Wassef hatte beschlossen, in ihrer Übersetzung die latinisierte Transliteration des ägyptisch-arabischen Wortes beizubehalten. Ich war schockiert, dass ich nur die Kursivschrift sah, aber keine Anmerkungen, die das erklärt hätten. Ich verstehe zwar, dass es beim Übersetzen manchmal besser ist, nicht zu übersetzen, um etwas zu vermitteln, aber ich fragte mich trotzdem, wie jemand, der nicht die geringste Ahnung von Ägypten hat, das verstehen kann. Außerdem habe selbst ich, der ich in Kairo aufgewachsen bin, nicht ganz verstanden, was es bedeutet, ein Bettlaken zu tragen. Da ich in den wohlhabenden Vierteln meiner Kindheit noch nie jemanden gesehen (oder zumindest nicht bemerkt) hatte, der eine melaya trug, fand ich es einfach nur seltsam. Erst nachdem ich mich in Ägypten umgehört hatte, tauchte eine Erklärung auf, die dieser herzzerreißenden Kurzgeschichte eine zusätzliche Ebene verlieh.

Eine melaya ist das Kleidungsstück der Ärmsten der Armen in Unterägypten (ironischerweise ist das Nordägypten). Sie wird nur von Frauen über ihrer Unterwäsche getragen; in Ägypten wäre das typischerweise ein dünnes Unterkleid, wie z. B. ein Camisole, das als Kombinationskleid bekannt ist. In den ländlichen Gemeinden ist es unüblich (aber nicht unbekannt) und entspricht dem Tragen eines Kartoffelsackkleides. Im Gegensatz zu den Kleidungsstücken aus der Zeit der US-Depression wird es stark mit Sexarbeit assoziiert und ist ein sozioökonomisches Merkmal in den städtischen Gesellschaften Ägyptens. Es handelt sich also um ein Phänomen, das in Unterägypten verbreitet ist, wo sich Frauen in weniger privilegierten Verhältnissen entsprechend den patriarchalischen und paternalistischen Werten ihrer Umgebung bescheiden, kleiden.

Sobald ich das verstanden hatte, lichtete sich der Nebel, und die Erzählung nahm eine andere Form an. Sie wurde subtiler und prägnanter, und der Stil der Erzählung wurde stimmiger. Die Übersetzung gewann plötzlich an Ernsthaftigkeit. Das machte mich neugierig darauf, welche anderen Themen mir mangels besserer Kenntnisse entgangen waren.

All dies bedeutet, dass sich alle Ideen, die auf Reisen gehen, in gewissem Maße verändern. Manche Veränderungen sind gewaltig und wirklich schockierend, andere sind so gering, dass sie für das ungeübte Auge nicht wahrnehmbar sind. Beim Überfliegen dieser speziellen Erfahrung hat mich der Gedanke an reisende Ideen sehr fasziniert. Und wenn ich an die Globalisierung denke, dann weiß ich mit Sicherheit, dass Ideen noch nie so viel gereist sind wie in diesem Moment. Und dennoch lassen sich manche Konzepte nicht so leicht transportieren. Ähnlich wie im Flugzeug reisen manche Ideen mit so viel Leichtigkeit, dass sie in das Gepäckfach passen, während andere zu groß, zu speziell, zu zerbrechlich oder einfach zu schwer sind. Hier ist besondere Vorsicht geboten, sonst funktioniert es einfach nicht und sie reisen unbemerkt mit.

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