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Kreolisiert sich die Welt?

Zum 10. Todestag von Édouard Glissant

Mit seinem Glauben an die Schönheit kultureller Vermischungen wurde Édouard Glissant zu einem der einflussreichsten postkolonialen Theoretikern. In dystopischen Zeiten gibt seine Philosophie der Relation Anlass zur Hoffnung.

An dem Gedicht, das Amanda Gorman anlässlich der Amtseinführung von Joe Biden vortrug, hätte er seine Freude gehabt. Etwa als die 23-jährige Dichterin die Ankunft der „diversen und schönen“ Menschen beschwor, die nach Jahrhunderten der Sklaverei, der Segregation, und struktureller Gewalt „entflammt und unerschrocken“ aus dem Schatten der amerikanischen Geschichte hervortreten würden. Für den auf Martinique geborenen Dichter und Philosophen Édouard Glissant (1928-2011) klang so der „Schrei der Welt“. Und der Beginn eines Gesangs der Kreolisierung, der sich aus einer Vielfalt unterdrückter Stimmen der Welt bildet. Einmal in Bewegung gekommen, trägt sich dessen verstörende Schönheit fort. Daran würden auch die Backlashs rassistischer Reinheitsfanatiker nichts ändern, wie sie mit Donald Trump und dem Erstarken nationalistischer Bewegungen in ganz Europa zu beobachten sind.

In einem Brief an Barack Obama kurz nach dessen erster Amtseinführung 2009, erklärte Glissant dem neuen amerikanischen Präsidenten, dass die Kreolisierung der Welt nicht mit einem einfachen multikulturellem Nebeneinander zu verwechseln sei. Vielmehr sei sie „das Undenkbare, wenn die Imaginären, die Vorstellungswelten, miteinander in Beziehung treten“. Für Glissant war Obama als ‚Sohn des Abgrunds‘ der Sklaverei und des Kolonialismus die Personifizierung einer welthistorischen Entwicklung, die vor mehr als 500 Jahren mit Columbus begann. 1957 verkündete Glissant in einem seiner ersten Fernsehauftritte: „Christoph Columbus ist in die neue Welt aufgebrochen und ich bin zurückgekommen“.

Die Philosophie und Poetik der Relation, die Glissant in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwarf, entstand in Auseinandersetzung mit der karibischen Landschaft und Geschichte. Mit seinem ‚archipelischen Denken‘ schrieb er gegen jene kontinentalen Traditionen an, die sich selbst als globales Zentrum verstehen. Die Vermischungen europäischer, afrikanischer, indischer und indigener karibischer Einflüsse, wie sie im verschiedenen Varianten des Kreol zum Ausdruck kommt, übertrug Glissant im Laufe seiner Karriere auf die Welt. Dazu entwarf er weitere Konzepte wie das der Relation, der Opazität und des Tout-Monde (All-Welt). Seit der englischen Übersetzung seines Schlüsselwerks Poétique de la Relation inspirierte sein Schreiben ab Anfang der 1990er Jahre eine neue Generatione karibischer Schriftsteller – darunter insbesondere den ebenfalls aus Martinique stammenden Patrick Chamoiseau -, die Sprach- und Kulturwissenschaft sowie die Kunstszene. Zur documenta 11 etwa stellte derKurator Hans Ulrich Obrist den Denker der Relation mit den Worten vor, Glissant habe für seine Generation und das 21. Jahrhundert dieselbe Bedeutung wie Foucault und Deleuze für die vorherige Epoche.

Obwohl bedeutende Teile von Glissants Werks seit den 1980er Jahren durch die Übersetzungen von Beate Thill auf Deutsch vorliegen, ist Glissant selbst einem an postkolonialen Themen interessierten deutschen Publikum bislang weitgehend unbekannt. Das liegt zum einen daran, dass sein Name im Schatten von zwei ebenfalls aus Martinique stammenden kanonischen Denkern steht: Aimé Césaire (1913-2008), dem Mitbegründer der Négritude-Bewegung und Frantz Fanon (1925-1961), dessen Werk seit mehr als einem halben Jahrhundert für dekoloniale Initiativen weltweit rezipiert wird. Andererseits fordern Glissants poetischer Schreibstil und versteckte Bezugssysteme die Leserschaft heraus. Denn die Genre-Grenzen zwischen Essay, Romane, Theaterstück und Gedicht sind so durchlässig, wie Glissant es sich auch auf nationalstaatlicher Ebene wünschte. Darin unterscheidet er sich sowohl von Césaires verallgemeinerndem Rückgriff auf eine afrikanische Essenz als auch von Fanons strategischer Opposition zwischen Weiß und Schwarz, Kolonialherr und Kolonisiertem. Festen Definitionen und klaren Freund-Feind-Bildern setzt Glissant das Prinzip des differenzierten und vereinenden Sowohl-als-auch entgegen. Sein Verständnis der Relation beschrieb er als „die Wirkungen der Kulturen aufeinander, ob symbiotisch oder im Konflikt, durch Unterdrückung oder Befreiung, öffnen sie vor uns etwas Unbekanntes, zugleich nah und in weiter Ferne.“

Glissants Werk legt keine Anleitung für den bewaffneten Widerstand vor, wie es Fanon mit Die Verdammenten der Erde 1961 tat. Dennoch ist Glissants Denken  nicht mit einem liberalen Kosmopolitismus gleichzusetzen, wie ihm gegen Ende seines Lebens oft vorgeworfen wurde. Die genaue Lektüre von Glissant ermöglicht einerseits eine Rückblende auf sich verändernde Strategien afrokaribischer Dichter und Denker, die sich sowohl neokolonialen politischen als auch neoliberalen ökonomischen Strukturen widersetzen. Glissant engagierte sich für die Autonomie des französischen Überseedepartments Martinique und alternative Bildungsinstitutionen wie das Institut martiniquais d’étude, er forderte die anhaltende Auseinandersetzung mit Sklaverei und Kolonialismus und provozierte damit die stolzen nationalen Erinnerungskulturen in Frankreich und den USA. Sein relationales Denken löste auch hier simple Gegenüberstellungen, ausschließliche Grenzziehungen und Identitätskonstruktionen auf, indem er die Bedeutung kultureller Verflechtungen sowie den Wert wuchernder Identitäten betonte. Neben sein Mantra „die Welt kreolisiert sich“ stellte er den programmatischen Satz: „Ich kann mich im Austausch mit dem Anderen verändern, ohne mich deswegen zu verlieren oder zu verfälschen“.

Wenn Glissant bis zu seinem Tod für die Belange von Minderheiten und das Recht auf Selbstbestimmung ‚kleiner Länder‘ wie den karibischen Inseln eintrat, sprach er in einem Ton, der sich von einer polemischen und polarisierenden Spielart der postkolonialen Kritik absetzte. Ihm gefiel deswegen der Vergleich seiner Literatur mit dem Jazz. Statt bei einer Kritik der Gewalt zu verweilen, ging es Glissant darum, durch das Experimentieren mit Sprache und dem Vermischen literarischer Formen unsere Vorstellungswelten zu verwandeln und miteinander in Kontakt zu bringen. Dasselbe Vorgehen wünschte sich Glissant auf politischer Ebene. Für eine dystopische Weltsicht ist Glissants Poetik der Relation deswegen ein probates Gegenmittel.

Dieser Beitrag wurde bereits auf faust-kultur veröffentlicht.

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