Weder Indigen noch kolonial: Indentured Labourers an den Grenzen postkolonialer Kategorien
Der Begriff der Indigenität wird erst plausibel, vor dem Hintergrund des Kolonialismus: ‚indigen‘ sind dann diejenigen Menschen, die die Orte, die von Kolonistator:innen erobert wurden, zuvor bewohnten. Doch darin liegt bereits die ganze Problematik dieses Begriffs: Wer oder was indigen ist, wurde über lange Zeit aus westlicher und kolonialer Sicht bestimmt.
Die damit einhergehende kolonialrassistische Dimension des Begriffs, veränderte sich erst, als anti-koloniale Bewegungen anfingen, ihn für sich zu reklamieren: So haben unterschiedlichste politische Bewegungen des 20. Jahrhunderts wie bspw. die Assembly of First Nations in Kanada, der Māori-Landmarsch in Neuseeland oder die Zapatistas in Mexiko einen Perspektivwechsel vom Kolonialen hin zu den kolonial Unterdrückten herbeigeführt. Mit diesem Perspektivwechsel beschreibt Indigenität auch eine Unterdrückungs- und damit auch Befreiungsgeschichte.
Die damit einhergehende Sichtbarmachung kolonialer Gewalt, erlaubt es dem Indigenen ein politisches Vorrecht gegenüber dem Kolonialen zu formulieren: Hieraus lassen sich entsprechend politische Ansprüche erheben; bspw. auf die Rückgabe von geraubtem Land, (finanzielle) Reparationen, oder den (staatlichen) Schutz der kulturellen Identität.
Doch so nützlich dieses Verständnis von Indigenität für postkoloniale Kämpfe auch ist, so kompliziert ist es zugleich anzuwenden: Da der Kolonialismus insbesondere mit Arbeitskräften – in Form von Versklavung oder menschenunwürdigen Arbeitsverträgen – seinen Handel betrieb, leben viele vom Kolonialismus Betroffene seit Generationen nicht mehr auf ihren indigenen Gebieten. Das wirft die schwierige Frage auf, welches Verhältnis sie zum Indigenen haben: Weisen ihre Herkunftsgebiete eine Ursprünglichkeit auf, die mit der Verschleppung/Einwanderung in die Kolonien verloren gegangen war? Und auf welches Gebiet bezieht sich die eigene kulturelle Identität überhaupt?
An diesem Spannungsverhältnis zwischen Indigenität und Herkunft mussten sich über 1 Millionen Menschen des subindischen Kontinents abarbeiten, die im Zuge des Plans der Indenture der Britischen Kolonialherrschaft als indentured labourers in den ihnen fremden Kolonien wie Britisch Guyana, Surinam, Jamaika, Trinidad, Fiji und Südafrika einzuwandern.[i] Für viele bedeutete dies die dauerhafte Abkehr von der indigenen Umgebung, da die von den Briten versprochene kostenlose Rückreise nach Ablauf ihres 5-Jahres-Vertrags, nie in Erscheinung trat. Auch die Wiederaufnahme in die indische Gesellschaft wurden vielen verwehrt: Denn verließen sie einmal das Land, bedeutete dies der Bruch mit der Kaste. Zugleich waren viele als Verwitwete oder Angehörige niedriger Kasten bereits Verstoßene, noch bevor sie ihre Reise antraten. Die gewissermaßen mittellos Gestrandeten, waren in den Kolonien nicht mehr Indigene, sondern Fremde: „Coolie“, war ihre abwertende Bezeichnung, die ihren niedrigen sozialen Status als Arbeiter:innen mit den Eindruck von Exotik vermischte.[ii]
Obwohl die indentured labourers aus wirtschaftlicher Sicht unabdingbar für die britischen Kolonien waren, war ihre Anwesenheit ein ‚Problem‘: So bezeichnete 1904 der Gouverneur der britischen Kolonie von Natal (Südafrika) die anwesenden Inder:innen als „strangers, forcing themselves upon a community reluctant to receive them“ .[iii] So degradierend diese Beschreibung ist, so sehr entsprach sie der Realität der indentured. Denn sie hatten keine andere Wahl als eine Beziehung zu jenem Ort aufzubauen, an dem sie sein mussten und zugleich nicht ganz sein durften.
Aus der Formulierung lässt sich allerdings auch die Furcht vor ihnen ablesen: Denn sich einer Gemeinschaft ‚aufzuzwingen‘ implizierte ihre Fähigkeit mit Widerstand auf ihre Anwesenheit zu pochen.
Das Zitat bezieht sich auf die Inder:innen im Süden der Hafenstadt Durbans, deren Widerstand in der Überbrückung des Spannungsverhältnisses zwischen Indigenität und Herkunft bestand; so waren sie der kolonialen Stadtverwaltung, die langfristig einen Plan zur Industrialisierung der Stadt hatte, ein Dorn im Auge, da sie mit Erfolg eine eigene Wirtschaft fernab der kolonialen Fabriken in der Peripherie Durbans betrieben. Um das zu erreichen, nutzten sie ihre kulturelle Identität als maßgebliche Ressource.
Als zwischen 1860 und 1911 etwa 150 000 indentured labourers Durban erreichten, wurden sie vordergründig als Feldarbeiter:innen auf den Zuckerrohrplantagen und -Mühlen eingesetzt.[iv] Um sie langfristig als Arbeiter:innen an sich zu binden, machten die Kolonialisten oftmals leere Versprechen – womit sie sich schlussendlich ins eigene Fleisch schnitten: Das „königliche“ Ackerland, das als Entlohnung für die Verlängerung der Arbeitsverträge den indentured meist vorenthalten wurde, wurde nämlich kurzerhand selbst gepachtet oder besetzt.[v]
Clairwood war ein von Mücken heimgesuchtes Sumpfgebiet außerhalb der Gemeindegrenzen Durbans, das für den Geschmack der Kolonialherrn unbrauchbar war – zur Freude der indentured:
Relativ ungestört bewirtschafteten sie es, bauten einfache Häuser aus Holz, Wellblech und Backsteinen und konzentrierten sich vordergründig auf den Gartenbaubetrieb, mit dem sie ihr Geld erwirtschafteten.[vi] Die Stadtverwaltung, die lange Zeit Clairwood eine Infrastruktur verwehrte, förderte ironischerweise nur die Etablierung einer eigenen selbstverwalteten Struktur: Auf die Erbauung des ersten Hindu Tempels 1880, folgten eigene Schulen, lokale Vereine, Friedhöfe, Sportanlagen und sogar eine Klinik. Verwaltet wurde sie von Vertrauten, die von der Gemeinschaft gewählt wurden.[vii]
Binnen weniger Jahrzehnte florierte Clairwood, was schließlich so weit ging, dass sich die Inder:innen in den 1920er Jahren nicht nur zur ernsthaften Konkurrenz für die weißen Händler:innen entwickelten, sondern auch der weißen Bevölkerung zahlenmäßig überlegen waren.[viii]
Doch das war nur möglich, weil die indentured ihre kulturelle Identität wie eine Ressource einsetzten: Durch ihren Handel mit speziellen indischen Gemüsesorten, Gewürzen, und dem Bedarf für religiöse Bräuche, versorgten sie ihre eigene Gemeinschaft. Indischen Familien mit niedrigem Einkommen wurden Kredite gewährt und durch den sozialen Zusammenhalt Geschäftsbeziehungen gestärkt.[ix]
Dieser Zusammenhalt, schuf auf Dauer die materielle Grundlage, die der Gemeinschaft in Clairwood erlaubte, ihre kulturelle Identität aufrechtzuerhalten, – und sich damit für eine Zeit lang kolonialer Regulierungen teilweise zu entziehen.[x] Dabei war diese Identität weder nur „Coolie“, noch eine lineare Fortführung des Indigenen. Stattdessen war sie von Beginn an in ihrer Situation in Südafrika verankert: Abgeschnitten von ihrem Herkunftsort und höchst fragmentiert – da sie schließlich aus unterschiedlichsten Bereichen Indiens stammten – arrangierte die indische Diaspora aus den kulturellen Fragmenten, den eigenen Bemühungen um sozialen Zusammenhalt und die Überbrückung von kulturellen und sprachlichen Unterschieden, etwas Neues.
Diese neue Identität ist bis heute völlig distinkt von jener kulturellen Identität Indiens. Trotz des Spannungsverhältnisses zu der indigenen Bevölkerung der Kolonien, erkannten die kolonial Unterdrückten, dass jede durch die Kolonialisten unterdrückte Identität gleichermaßen schützenswert ist. So deklarierte die black consciousness Bewegung in Südafrika der 1960er Jahre sogar, dass alle Menschen, die im Apartheid-System als nicht-weiß klassifiziert wurden, Schwarz seien.[xi]
Indigenität bedarf keiner starren Grenzen wie etwa die Vorstellung von „Blut und Boden“ im Nazismus – sondern ganz im Gegenteil, bezeichnet der Begriff ein Konzept, dass von seiner historischen Kontextualisierung in Verbindung mit dem anti-kolonialen Kampf lebt. In diesem Sinne verlautete die guyanesische Poetin Rajkumari Singh: „Proclaim the word! […] Proudly say to the world: I am a COOLIE.“[xii]
[i] Vgl. Bahadur, Gaiutra (2016): Coolie Woman. The Odyssey of Indenture. Hurst and Company, London. Hier: S. xx.
[ii] Der Begriff „Coolie“ ist eine sehr abwertende Bezeichnung ähnlich zum N-Wort und sollte daher immer kontextualisiert werden. Siehe auch: Preface. The C-Word. In: Ebd.
[iii] Vgl.: Pather, Juggie (2015): Clairwood. The Untold Story. Juggie Pather, Cape Town. Hier: S. 22f.
[iv] Pather: S.15.
[v] Ebd.
[vi] Ebd.
[vii] Vgl.: Scott, Diane (1992): The destruction of Clairwood: a case study on the transformation of communal living space. In: Smith, D. M. (1992). The Apartheid city and beyond: Urbanization and social change in South Africa (1. publ.). Routledge [u.a.]. Hier: S.93.
[viii] Vgl. Pather, S. 23.
[ix] Vgl. Scott, S.94f.
[x] So merkt Diane Scott an, dass sich die (ex-)indentured durch ihre erfolgreiche selbstsuffiziente Wirtschaft, ihre eigene Proletarisierung verzögerten. Vgl.: Scott, S. 94f.
[xi] https://www.dailymaverick.co.za/opinionista/2020-11-27-racism-by-and-against-indian-south-africans-poisons-our-land/
[xii] Bahadur, S.xxi.